Baku / Bakı

von Zaur Gasimov

Inhaltsverzeichnis

1 Von einer multiethnischen zu einer multinationalen Stadt (Konstellationen)
2 Ethnisch-nationalistische Konfrontationen (Differenzen)
3 Von einer multinationalen Metropole zur nationalstaatlichen Hauptstadt (Bedeutungen)
4 Weiterführende Literatur
5 Zitierempfehlung

Baku (2012)
Baku (2012)

Von einer multiethnischen zu einer multinationalen Stadt (Konstellationen)

Baku liegt an der westlichen Küste des Kaspischen Meeres. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestand die Bevölkerung der Stadt aus etwa 10.000 turk- und iranischsprachigen Schiiten. Die Eingliederung Bakus und weiterer Gebiete des Kaukasus in das Zarenreich löste die Stadt von der iranischsprachigen Welt ab und unterzog sie einer Modernisierung „von oben“.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts löste die Ölförderung einen ersten Boom der Stadt aus. Zehntausende Russen, Ukrainer, Polen, Deutsche und Juden aus unterschiedlichen Regionen des Zarenreiches strömten nach Baku; tausende armenische Familien wanderten aus dem Osmanischen Reich und dem russischen Tiflis ein. Die Ölhauptstadt zog zudem zahlreiche Gastarbeiter aus Persien an, sowohl turk- und iranischsprachige Schiiten als auch Armenier. Um 1900 lebten in Baku fast 300.000 Menschen. Die Stadt war multinational, multiethnisch und multireligiös geprägt. Während polnische Architekten Villen im europäischen Stil für muslimische Ölmagnaten entwarfen, errichteten Deutsche und Armenier Kirchen im Stadtkern. Zum größten Bau Bakus sollte jedoch die orthodoxe Alexander-Nevski-Kathedrale werden, die andere Kirchen, Moscheen und den mittelalterlichen „Mädchenturm“ überragte. Die Kathedrale wurde zu einem Wahrzeichen des Zarenreichs an seinen nichtrussischen Peripherien.

Zu Beginn des 20. Jahrhundert war Baku eines der Wirtschaftszentren des Zarenreiches. Neben kapitalstarken Familien wie den Rotschilds und Nobels konnte sich ein aserbaidschanisches Bürgertum behaupten. Der Ölboom begünstigte die Rezeption europäischer Ideen und Künste. Exemplarisch dafür steht Uzeyir Hadschibeyovs Operette „Leyli und Medschnun“, die eine „klassische“ Liebesgeschichte der persischen und aserbaidschanischen Literatur in Szene setzte und 1908 in Baku aufgeführt wurde. Gefeiert als erste Operette der muslimischen Welt, stand sie sowohl für den west-östlichen Transfer europäischer Musik als auch eine Symbiose beider Musiktraditionen.

Ethnisch-nationalistische Konfrontationen (Differenzen)

In den 1910er-Jahren war Baku nicht nur ein multiethnisches Laboratorium der Künste, sondern auch ein Ort, an dem sich die zwei größten Bevölkerungsgruppen, Armenier und Aserbaidschaner, zu behaupten und abzugrenzen suchten – häufig mit Gewalt. Armenisch-aserbaidschanische Auseinandersetzungen kosteten 1905 und 1918 Tausenden von Menschen das Leben. Zugleich organisierten sich vor dem Ersten Weltkrieg zunächst armenische, dann auch aserbaidschanische politische Parteien. Sie waren national-demokratisch, sozialistisch oder islamisch-religiös geprägt. Zudem traten viele Armenier, Aserbaidschaner, Juden und Ukrainer der russischen sozial-demokratischen Partei sowie später den Menschewiki und Bolschewiki bei. Vor allem für letztere wurde Baku aufgrund seiner großen Arbeiterschaft bedeutend, unter der ethnische Russen und Armenier die Mehrheit stellten. Wie in Moskau oder Kiew waren Streiks und Arbeiterdemonstrationen typisch für den Bakuer Alltag der 1910er-Jahre. 1918 beherbergte die Stadt sogar für einige Monate die „Bakuer Kommune“. Nach deren Fall wurde Baku zwischen Mai 1918 und April 1920 Hauptstadt der kurzlebigen Aserbaidschanischen Demokratischen Republik.

Am 28. April 1920 marschierte die Rote Armee ein, und Baku wurde für die nächsten siebzig Jahre zur Hauptstadt der Aserbaidschanischen Sowjetischen Sozialistischen Republik. Die Ölfelder wie auch die Prachtvillen aus dem 19. Jahrhundert wurden verstaatlicht, das besitzende Bürgertum enteignet. Die meisten Moscheen und Kirchen wurden anderen Zwecken zugeführt, die Alexander-Nevski-Kathedrale in den 1930er-Jahren gesprengt. Im Stalinismus nahmen die Repressalien gegen Intellektuelle und Kulturschaffende Ende der 1930er-Jahre drastisch zu. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden hunderttausende Angehörige der Geistlichkeit und der Intelligenzija sowie Altkommunisten, aber auch Vertreter einzelner Nationalitäten wie Kurden, Deutsche und Perser, aus Sowjet-Aserbaidschan nach Zentralasien und Iran zwangsumgesiedelt bzw. zur Auswanderung genötigt. Aserbaidschanisch wurde kyrillisiert und weiter russifiziert. Im deutsch-sowjetischen Krieg seit 1941 erreichte die Ölförderung in Baku ihren Höhepunkt. Die Stadt wurde zum bedeutendsten Lieferanten für die sowjetische Armee.

Von einer multinationalen Metropole zur nationalstaatlichen Hauptstadt (Bedeutungen)

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Baku neben Tiflis eine der multinationalen Städte der Sowjetunion. Die kommunistischen Eliten erklärten Baku zu einer idealen sozialistischen Hauptstadt einer muslimisch geprägten Sowjetrepublik. Baku wurde zu einem obligatorischen Reiseziel für Regierungsdelegationen aus dem Iran, der Türkei sowie den arabischen Ländern. Während der „Perestroika“ formierte sich in Baku eine aserbaidschanische „Volksfront“ nach baltischem Muster, ausgelöst durch die allgemeine Liberalisierung in Moskau sowie den Ausbruch armenisch-aserbaidschanischer Unruhen um die mehrheitlich von Armeniern bewohnte aserbaidschanische Provinz Bergkarabach. Sie kritisierte die Russifizierung, rief zur Re-Latinisierung des aserbaidschanischen Alphabets auf und forderte eine neue Geschichtspolitik. Mit dem Zerfall der Sowjetunion erlangte Aserbeidschan 1991 schließlich die Unabhängigkeit, und Baku wurde zur Hauptstadt der neuen Republik.

Nachdem der Krieg mit Armenien 1994 mit einem Waffenstillstand 1994 gestoppt wurde, verließen etwa 400.000 Armenier die Stadt, vor allem in Richtung Russland. Hinzu kamen fast 100.000 ethnische Russen und russischsprachige Juden. Dafür strömten fast eine Million aserbaidschanische und kurdische Flüchtlinge aus dem ländlichen Raum Armeniens, aus Karabach und den umliegenden Grenzgebieten nach Baku. Nach der letzten Volkszählung sind fast zehn Prozent der Stadtbevölkerung nicht-aserbaidschanischer Herkunft. Das heutige Baku ist keine multikulturelle Metropole wie im ausgehenden Zarenreich oder noch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch prägen die orthodoxen Kirchen, mehrere Synagogen sowie sunnitische und schiitische Moscheen, deren Zahl nach dem Zerfall der Sowjetunion rapide zunahm, neben ultramodernen architektonischen Bauten das Bild der Stadt, die seit zwei Dekaden ihren zweiten Ölboom erlebt.

Baku heute ist die Hauptstadt der mehrheitlich schiitisch bevölkerten, laizistisch und autoritär regierten Republik Aserbaidschan. Sprachlich mit der Türkei, konfessionell mit dem Iran und politisch mit Russland verbunden, wurde Baku zu einem Laboratorium eines aserbaidschanischen Selbstverständnisses, das sich gegen die benachbarten Länder als „eine neue Nation mit uralten Kulturtraditionen“ absetzt.

weiterführende Literatur

Audrey Altstadt, The Azerbaijani Turks. Power and Identity under Russian Rule, Stanford 1992.

Zaur Gasimov, Historical Dictionary of Azerbaijan, Lanham, MD 2018.

Bruce Grant, Cosmopolitan Baku, in: Ethnos. Journal of Anthropology 75 (2010), S. 123–147.

Rufat Sattarov, Islam, State, and Society in Independent Azerbaijan, Wiesbaden 2009.

Tom Reiss, The Orientalist. Solving the Mystery of a Strange and Dangerous Life, New York 2005.

Zitierempfehlung

Zaur Gasimov, Baku, in: Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa, hg. für das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) v. Joachim Berger, Irene Dingel und Johannes Paulmann, Mainz 2017. URL: http://www.ieg-differences.eu/ortstermine/zaur-gasimov-baku, URN: urn:nbn:de:0159-2017121104.

Dieser Text ist lizensiert unter: CC by-nc-nd 4.0 international (Namensnennung, keine kommerzielle Nutzung, keine Bearbeitung).

Abbildungsnachweis

Altstadt und Neubauviertel Bakus, Fotografie, 2012. By Khortan (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AView_of_Bakucity%2C_2012.jpg