Emden

„GODTS KERCK VERFOLGT VERDREVEN . HEFT GODT HYR TROST GEGEVEN“ Mit diesen Worten ist das Schepken Christy, das Schifflein Christi, umgeben, das im Jahre 1660 als Sandsteinrelief an einem Portal des Nordchors der Großen Kirche in Emden angebracht wurde – ein Ausdruck der Dankbarkeit für die Aufnahme niederländischer Glaubensflüchtlinge in Emden rund 100 Jahre zuvor. Die ostfriesische Seehafenstadt Emden hatte seit der Mitte des 16. Jahrhunderts Tausenden von Migranten aus den angrenzenden nördlichen Niederlanden Zuflucht geboten, als diese aus religiösen, aber auch ökonomischen Gründen ihre Heimat verließen. Sie wurde damit zur „Moederkerk“, Mutterkirche der niederländischen Reformierten und erlebte einen wirtschaftlichen und politischen Aufschwung.
Inhaltsverzeichnis
1 Zwei Richtungen der Reformation an einem Ort (Konstellationen)
2 Zufluchtsort und „Moederkerk“ (Differenzen)
3 Konfessionsmigration und Kirchenordnung (Bedeutungen)
4 Weiterführende Literatur
5 Zitierempfehlung
Zwei Richtungen der Reformation an einem Ort (Konstallationen)
Emden war zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine kleine Hafenstadt an der Emsmündung unter der Herrschaft der ostfriesischen Grafen. Seitdem erfuhr die Stadt eine zunächst langsame, später zunehmende wirtschaftliche Expansion. Die Reformation fand früh Unterstützung in Emden. In der Stadt dominierte – unter Einflüssen aus den Niederlanden und der Schweiz – die reformierte Theologie, während die ostfriesischen Grafen landesherrliche Kirchenordnungen mit Wittenberger Prägung erließen. Dem ersten Superintendenten Ostfrieslands, dem polnischen Adeligen Johannes a Lasco, gelang es in der Zeit seiner Tätigkeit (1542–1548) nicht, die theologischen Widersprüche auszugleichen. Er verließ Emden, wurde 1550 Superintendent der Fremdengemeinde in London und kam nach der Ausweisung der ausländischen Protestanten durch Königin Maria Tudor mit einem Teil dieser Gemeinde 1554 zurück in die Stadt. Die Aufnahme dieser Flüchtlingsgruppe, deren niederländischsprachige Mitglieder sich der Emder Kirchengemeinde anschlossen, während die französischsprachigen Wallonen eine eigene Gemeinde gründeten, legte den Grundstein für Emdens Rolle als Zufluchtsort niederländischer Glaubensflüchtlinge.
Zufluchtsort und „Moederkerk“ (Differenzen)
Im Laufe des 16. Jahrhunderts eskalierte in den Niederlanden die konfessionelle Differenz zwischen der Habsburger Landesherrschaft, die altgläubig blieb, und der Bevölkerung, die sich mehrheitlich dem reformierten Protestantismus zuwandte. Anders als im Reich war Kaiser Karl V. in den Niederlanden zu keiner Rücksichtnahme gezwungen. Deshalb versuchten er, seine Schwester Maria von Ungarn als Statthalterin und sein Sohn Philipp II. als sein Nachfolger, die Andersgläubigen gewaltsam zu unterdrücken. Unter dem anhaltenden Verfolgungsdruck flohen daraufhin seit den 1540er-Jahren evangelische Niederländer zu Tausenden in benachbarte Städte, in kleinere Orte vor allem am Niederrhein und in der Pfalz, aber auch nach Köln und Frankfurt am Main sowie in großer Zahl nach England, wo sie sich vor allem in London niederließen. Wenngleich auch wirtschaftliche Gründe ihre Flucht motivierten, hat man diese Niederländer doch zurecht als „Konfessionsmigranten“ bezeichnet. An vielen Aufnahmeorten schlossen sie sich zu eigenen Gemeinden zusammen. Dabei gerieten sie immer wieder auch in konfessionelle Gegensätze zu lokalen Theologen und Obrigkeiten. Vielfach genossen sie aber auch eine stillschweigende Duldung. In Emden als einem der bedeutendsten Zufluchtsorte – die Bevölkerung der Stadt verdreifachte sich durch den Zuzug von 5.000 bis 7.000 auf knapp 20.000 Einwohner – konnten sich die Migranten dagegen mehrheitlich der reformierten Gemeinde anschließen.
Die reformierten Gemeinden der Niederlande konnten sich unter dem Druck der Verfolgung kaum organisieren. Daher kam den Fremdengemeinden für die Etablierung von kirchlichen Strukturen entscheidende Bedeutung zu. So entstand in der 1553 vertriebenen Londoner Flüchtlingsgemeinde eine beispielhafte Gemeindeordnung, die sog. „Forma ac ratio“ Johannes a Lascos und Marten Mikrons, die den Aufbau einer eigenständigen Freiwilligkeitsgemeinde unabhängig von bestehenden kirchlichen Strukturen beschrieb und der Theologie der Schweizer Reformatoren nahestand. Im Jahr des Beginns des niederländischen Aufstands 1568 kam in Wesel ein Konvent von Theologen und Politikern zusammen, die einige grundlegende Artikel zur Gestalt der künftigen Kirche vorschlugen. Vom 4. bis 10. November 1571 tagte schließlich in Emden die erste Nationalsynode der niederländisch-reformierten Kirche, deren Beschlüsse und ekklesiologischen Grundsatzentscheidungen bis in die Gegenwart Bestand hatten.
Die Emder reformierte Gemeinde behielt auch in der Folgezeit ihre große Bedeutung für den Aufbau der niederländischen Kirche. Sie wurde als deren „Mutterkirche“ und als „Genf des Nordens“ bezeichnet. Sie stand in Verbindung mit Reformierten in ganz Europa und blieb politisch auf die Niederlande hin orientiert. Nach der endgültigen Niederlage der Habsburger in der angrenzenden Provinz Groningen (1589) äußerte sich die gewachsene Selbständigkeit der Emder Bürgerschaft in einem Aufstand gegen ihren lutherischen Landesherrn. Sie erzwang – mit militärischer Rückendeckung durch die Generalstaaten – in der Emder Revolution von 1595 und den nachfolgenden Landesverträgen Delfzijler Vergleich und Haager Konkordaten die faktische Unabhängigkeit von den ostfriesischen Grafen und das rechtlich abgesicherte Nebeneinander von reformierter und lutherischer Konfession in einem Territorium – 50 Jahre vor dem Westfälischen Frieden.
Konfessionsmigration und Kirchenordnung (Bedeutungen)
Zwar sind Flucht oder Migration aus Gründen religiöser bzw. konfessioneller Differenz am Beginn der europäischen Neuzeit keine erstmals auftretende Erscheinung, aber der niederländische Aufstand steht doch am Anfang der Konfessionsmigration als Massenphänomen: Es kam zur Auswanderung von tausenden Menschen, die ganze Bevölkerungsteile wie Familien oder Handwerkszünften umfasste. Sie fanden Aufnahme in Städten, deren Bevölkerung einer anderen Konfession angehörte, aber auch bei „Glaubensbrüdern“ wie in Emden. Hier verdreifachte sich die Bevölkerung innerhalb weniger Jahre. Dabei bemühten sich kirchliche und politische Autoritäten, soziale Probleme durch eine eigene Armenfürsorge abzufedern. Den Obrigkeiten war bewusst, dass es sich auch um „Wohlstandsflüchtlinge“ handelte: Der Zuzug brachte auch erheblichen Wohlstand in die aufnehmenden Gemeinden.
Von den Flüchtlingsgemeinden aus wurde die Organisation einer Untergrundkirche in den Niederlanden nach dem Prinzip der Eigenständigkeit der Einzelgemeinde vollzogen; allen weiteren Gliederungen (wie Classis oder Nationalsynode) kam nur eine delegierte Autorität zu. Das so entwickelte Prinzip eines subsidiären Kirchenaufbaus unabhängig von oder gar in Opposition zur politischen Obrigkeit trug langfristig zur Etablierung demokratischer Formen der Kirchenleitung und zur Trennung von Staat und Kirche bei.
weiterführende Literatur
Emder Synode 1571–1971. Beiträge zur Geschichte und zum 400jährigen Jubiläum, bearb. v. Elwin Lomberg, hg. v. der Ev.-ref. Kirche in Nordwestdeutschland, Neukirchen-Vluyn 1973.
Andrew Pettegree, Emden and the Dutch Revolt. Exile and the development of reformed Protestantism, Oxford 1992.
Heinz Schilling, Die niederländischen Exulanten des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum Typus der frühneuzeitlichen Konfessionsemigration, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 67–78.
Heinrich Schmidt / Walter Deeters, Geschichte der Stadt Emden von 1500–1575 / von 1576 bis 1611, in: Geschichte der Stadt Emden, Bd. 1, Leer 1994, S. 161–269; 271–336.
Klaas-Dieter Voß u.a. (Hg.), Menso Alting und seine Zeit. Glaubensstreit – Freiheit – Bürgerstolz, Oldenburg 2012.
Zitierempfehlung
Henning P. Jürgens, Emden, in: Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa, hg. für das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) v. Joachim Berger, Irene Dingel und Johannes Paulmann, Mainz 2016. URL: http://www.ieg-differences.eu/ortstermine/henning-p-juergens-emden, URN: urn:nbn:de:0159-20161020118.
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Abbildungsnachweis
Henning P. Jürgens