Oostakker
INHALTSVERZEICHNIS
2 Die Zuspitzung klerikal-liberaler Deutungskämpfe seit 1848 (Differenzen)
3 Oostakker als Beispiel für das klerikal-liberale Ringen im 19. Jahrhundert (Bedeutungen)
4 Weiterführende Literatur
5 Einzelnachweise
6 Zitierempfehlung
Antiklerikaler Aufruhr: Pfingsten 1875 im belgischen Oostakker (Konstellationen)
Am Pfingstmontag 1875 pilgerten 20.000 Mitglieder der Erzbruderschaft des Heiligen Franz Xaver in das ostflämische Dorf Oostakker. Viele Männer waren mit der Eisenbahn nach Gent gereist und gingen die restlichen Kilometer zu Fuß. Kaum hatte die Prozession die Stadt verlassen, wurden die Pilger angegriffen. Studierende schrien „A bas la calotte!“ („Nieder mit der Kappe [der Kleriker]“) und warfen verdorbenes Gemüse, um ihrer Abneigung gegenüber dieser Manifestation katholischen Glaubens Ausdruck zu verleihen. Trotzdem gelang es den Pilgern, ihre Gegner zurückzudrängen. In Oostakker angekommen, nahmen die Pilger an einem Gottesdienst teil, in dem sie der Genter Bischof Bracq in ihrem Glauben und ihrer Kirchentreue zu bestärken suchte. Nach einem lauten „Leve Pius IX“ („Es lebe Pius IX.“)[1] legten die Pilger auf Drängen des Bischofs die Fahnen der Erzbruderschaft nieder, um bei ihrer Rückkehr nach Gent möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen[2]. Dennoch wurden die Pilger bei ihrer Ankunft in der Stadt von liberalen Studierenden attackiert. Nach Angaben katholischer Zeitungen wurden 812 Pilger verwundet und einer „ermordet“. Die liberale Seite hingegen wies auf die Provokationen der „militärisch organisierten“[3] Katholiken hin; das Opfer sei vielmehr an den Folgen „eines Sonnenstichs“[4] – und damit ohne Fremdeinwirkung – gestorben. Warum kam es zu dieser gewaltsamen Konfrontation und welche Bedeutung hatte sie?
1873 hatte die Marquise De Courtebourne im Garten ihres Schlosses bei Oostakker eine Grotte mit einer Statue für Unsere-Liebe-Frau-in-Lourdes errichtet. In Lourdes war nach katholischer Interpretation die Jungfrau Maria 1858 der 14-jährigen Bernadette Soubirous erschienen. Das Ereignis stieß in ganz Europa auf Resonanz. Alsbald berichtete man auch anderswo – z.B. im saarländischen Marpingen – von Erscheinungen der Jungfrau, die oft von Wunderheilungen begleitet gewesen sein sollten. So soll sich 1874 etwa Pieter de Rudder nach einem Besuch der Grotte in Oostakker von einem offenen Beinbruch erholt haben, den die Ärzte nicht erfolgreich hatten behandeln können. Andere „Wunder“ folgten, weshalb die Zahl der Pilger in das „flämische Lourdes“[5] weiter anstieg. 1875 entschloss man sich daher zum Bau einer Kirche. Im Gegensatz zu den rauchenden Türmen der Genter Textilfabriken bezeugte die neogotische Kirche den wiederbelebten belgischen Katholizismus. Zugleich illustrierte der räumliche Kontrast zwischen industriellen und religiösen Bauwerken die sogenannte „breuklijnentheorie“ („Bruchlinientheorie“), mit der belgische Historikerinnen und Historiker die politische und gesellschaftliche Spaltung ihres Landes im 19. Jahrhundert beschreiben.
Die Zuspitzung klerikal-liberaler Deutungskämpfe seit 1848 (Differenzen)
Die Bruchlinientheorie beschreibt die Fragmentierung von Politik und Gesellschaft im modernen Belgien entlang dreier Konfliktfelder. Das weltanschauliche Konfliktfeld bezieht sich auf den Streit über die Grenzen kirchlich-katholischen Einflusses in der Gesellschaft, das sozial-wirtschaftliche verweist auf den Konflikt zwischen städtischer und ländlicher Gesellschaft bzw. zwischen besitzender und arbeitender Klasse, und das kulturell-sprachliche umfasst den Streit zwischen Flämisch- und Französischsprachigen. Bedrohlich für den gesellschaftlichen Frieden wurden es dann, wenn sich diese Bruchlinien überlappten. Genau das passierte in Oostakker bzw. Gent am Pfingstmontag 1875. Hier trafen flämische und kirchentreue Katholiken vom Land auf Angehörige eines mehrheitlich französischsprachigen, städtischen und liberal denkenden Milieus. Was für manche ein Wunder Gottes war, stellte für andere das Symbol eines vormodernen Aberglaubens dar.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es besonders in katholisch geprägten Teilen Europas, unter anderem bedingt durch den Konservatismus Papst Pius‘ IX., zu heftigen Auseinandersetzungen um die politische und gesellschaftliche Funktion der (römisch-katholischen) Kirche. Die ultramontanen Katholiken strebten danach, den kirchlichen Einfluss etwa im Bildungsbereich, in der Krankenpflege und der Armenfürsorge zu erhalten. Die Antiklerikalen, darunter auch liberale Katholiken, versuchten hingegen, die Macht des Klerus zu begrenzen und die Religion auf den Bereich des Privaten zu verweisen. Im Kern dieses Konflikts stand meist nicht der Glaube an sich, sondern die Reichweite kirchlichen Einflusses, weshalb sich auch Gläubige gelegentlich an antiklerikalen Aktionen beteiligten. Dieses Ringen um die Position der Kirche in der Öffentlichkeit wurde sowohl mittels symbolischer Protestformen als auch mithilfe physischer Gewalt ausgetragen. In Karikaturen, Flugschriften, Liedern und Predigten wurden Gegner kritisiert, belächelt und herabgewürdigt; gelegentlich wurden sogar Prozessionen oder öffentliche Kundgebungen angegriffen, Fenster zerstört, Feuer gelegt oder Personen zusammengeschlagen.
Im Vergleich zur Frühen Neuzeit veränderte sich der Umgang mit weltanschaulichen Differenzen im 19. Jahrhundert in einigen Aspekten: Erstens löste der klerikal-liberale Konflikt nur noch im Zusammenhang mit säkularen Differenzen – vor allem mit sozio-ökonomischen und nationalen Konflikten – Gewalt aus. Zweitens hatte sich der Konflikt von innerreligiösen bzw. interkonfessionellen auf religiös-säkulare Streitigkeiten verlagert; nun wurde die politisch-gesellschaftliche Wirksamkeit der Kirche infrage gestellt. Drittens nahmen sich immer mehr Akteure als Teil einer transnationalen Gemeinschaft wahr.
Dies alles zeigt sich im Fall Oostakker. Vor dem Hintergrund langjähriger liberalen Aktionen zur Stärkung des belgischen Staates waren die vom Land stammenden Pilger mit kirchenfeindlichen Stadtbewohnern aneinander geraten. Dass die französische Zeitung „Le Monde Illustré“ einen bebilderten Bericht über die Schlägerei publizierte, bezeugt das grenzüberschreitende Interesse an lokalen Konflikten um „öffentliche Religion[6].
Oostakker als Beispiel für das klerikal-liberale Ringen im 19. Jahrhundert (Bedeutungen)
Die Pilgerfahrt nach Oostakker trug auf regionaler Ebene zu einer nachhaltigen Polarisierung und Politisierung des klerikal-liberalen Konfliktes in Belgien bei. Diese Dynamik, die auch als „latenter“ oder „unbewaffneter Bürgerkrieg“[7] bezeichnet worden ist, ebnete indirekt den Weg für das antiklerikale Schulgesetz von 1879. In einer europäischen Perspektive war „Oostakker“ nicht das einzige Ereignis, bei dem es bis zum Ende des langen 19. Jahrhunderts zu Gewalt zwischen Unterstützern und Opponenten der katholischen Kirche und ihres Klerus kam: Der Moabiter Klostersturm (1869), der Versuch, die Leiche Pius IX. in den Tiber zu werfen (1881), die Gewalt infolge des französischen Trennungsgesetzes von 1905 und die „Tragische Woche“ in Barcelona (1909) sind weitere Beispiele. Dennoch lösten weltanschauliche Differenzerfahrungen im 19. Jahrhundert deutlich weniger physische Gewalt aus als in der Zeit vor 1800. Wie sich die Position der römischen Kirche im modernen Europa veränderte, zeigt sich darin, dass die Initiative zur Anwendung von Gewalt kein katholisches Privileg mehr war. Dass sich Gläubige (wie die Pilger in Oostakker) antiklerikaler Gewalt ausgesetzt sahen, bestätigt die Erosion katholischer Hegemonie in politischen und gesellschaftlichen Fragen in Europa seit dem späten 17. Jahrhundert.
weiterführende Literatur
Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010.
Gita Deneckere, Oostakker-Lourdes: de Grot. De Belgische Kulturkampf, in: Jo Tollebeek u.a. (Hg.), België, een Parcours van Herinnering, 2 Bd., Amsterdam 2008, Bd. 1, S. 20–33.
Els De Witte, The Battle for Monasteries, Cemeteries and Schools: Belgium, in: Christopher Clark u. Wolfram Kaiser (Hg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003, S. 102–128.
Suzanne K. Kaufman, Consuming Visions. Mass Culture and the Lourdes Shrine, Ithaca, CO 2005, S. 182–191.
Carl Strikwerda, A House Divided: Catholics, Socialists, and Flemish Nationalists in Nineteenth-Century Belgium, Blue Ridge Summit 1997.
Einzelnachweise
- ↑De Godsdienstige Week van Vlaanderen, 21. Mai 1875.
- ↑L’Étoile Belge, 17./18. Mai 1875.
- ↑L’Étoile Belge, 21. Mai 1875.
- ↑Le Bien Public, 21. Mai 1875.
- ↑Emiel Scheerlinck, Het Vlaamsche Lourdes of de Verering der Onbevlekte Maagd aan de Rots van Oostakker, Gent 2. Aufl. 1879.
- ↑Der amerikanische Religionssoziologe José Casanova hat den Begriff „public religion“ geprägt, womit die Rolle von Religion in der Öffentlichkeit gemeint ist. José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994.
- ↑Karel Van Isacker, Werkelijk en Wettelijk Land. De Katholieke Opinie tegenover de Rechterzijde 1863–1884, Antwerpen 1955, S. 177; Jan De Maeyer, Arthur Verhaegen (1847–1917). De Rode Baron, Leuven 1994, S. 156.
Zitierempfehlung
Eveline G. Bouwers, Oostakker, in: Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa, hg. für das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) v. Joachim Berger, Irene Dingel und Johannes Paulmann, Mainz 2016. URL: http://www.ieg-differences.eu/ortstermine/eveline-g-bouwers-oostakker, URN: urn:nbn:de:0159-20161020316.
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Abbildungsnachweis
Bibliothèque Nationale de France