Istanbul / İstanbul

Von Denise Klein
Inhaltsverzeichnis
1 Die multireligiöse Hauptstadt (Konstellationen)
2 Vom Mitglied einer Religionsgemeinschaft zum osmanischen Bürger (Differenzen)
3 Das multireligiöse Erbe im laizistischen Nationalstaat (Bedeutungen)
4 Weiterführende Literatur
5 Zitierempfehlung
Die multireligiöse Hauptstadt (Konstellationen)
Istanbul steht für die Koexistenz der drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Konstantin, der erste christliche Kaiser des Römischen Reiches, verlegte im Jahr 330 seine Residenz in die Stadt. Nach der Entfernung von Rom im Mittelalter stieg sie zum Zentrum des orthodoxen Christentums auf. Bis heute ist Istanbul Sitz des spirituellen Oberhaupts der orthodoxen Christen (ökumenisches Patriarchat von Konstantinopel), des Patriarchen der Armenischen Apostolischen Kirche, des Erzbischofs der syrisch-orthodoxen Gemeinde und eines apostolischen Vikars der römisch-katholischen Kirche. Zugleich war die Stadt immer auch Heimat einer jüdischen und spätestens seit dem 10. Jahrhundert einer muslimischen Gemeinde. Seit dem 11. Jahrhundert siedelten sich viele italienische Kaufleute katholischen Glaubens an. 1204 eroberten die Kreuzfahrer auf dem Vierten Kreuzzug die Stadt und etablierten kurzzeitig einen katholischen Kaiser und Patriarchen.
1453 nahmen die muslimischen Osmanen Konstantinopel ein und bauten sie als neue Hauptstadt aus. Seit dem späten 18. Jahrhundert inszenierten sich die Sultane als oberste Vertreter aller Muslime weltweit (Kalif). Während unmittelbar nach der Eroberung Muslime, Christen und Juden zwangsangesiedelt wurden, um Istanbul zu beleben, versuchte man in den folgenden Jahrhunderten eher den Zuzug zu begrenzen. Die jüdische Gemeinde wuchs mit dem Eintreffen sephardischer Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts durch die katholischen Könige von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden und im Osmanischen Reich Aufnahme fanden. Istanbul beheimatete bald eine der größten armenischen Gemeinden weltweit. Seit dem 18. Jahrhundert ließen sich immer mehr europäische Kaufleute unterschiedlicher christlicher Denominationen in der kosmopolitischen Handelsstadt nieder.
Vom Mitglied einer Religionsgemeinschaft zum osmanischen Bürger (Differenzen)
Anders als die byzantinischen Kaiser herrschten die osmanischen Sultane über ein Reich, in dem Andersgläubige erst die Mehrheit und später einen erheblichen Anteil der Bevölkerung stellten. Um ihren Herrschaftsanspruch auch nach außen hin sichtbar zu machen, gestalteten die neuen Machthaber Istanbul durch Neubauten und die Umwandlung von Kirchen, allen voran der Hagia Sophia (→ Abb.), in Moscheen um. Der multireligiöse Charakter der Stadt zeigte sich im Nebeneinander von religiös homogenen und gemischten Stadtvierteln, in Handwerker-Zünften, denen sowohl Muslime als auch Nichtmuslime angehörten, und an religiösen Orten, die von Gläubigen unterschiedlicher Religionen frequentiert wurden.
Die osmanische Gesellschaft unterschied zwischen der steuerbefreiten Elite und steuerpflichtigen Untertanen, also vor allem Bauern, Handwerkern und Händlern, und innerhalb der Gruppe der Steuerzahler zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Die Sultane bemühten sich in der Regel nicht, ihre nicht-muslimischen Untertanen zum Islam zu konvertieren. Stattdessen griffen sie auf ein etabliertes islamisches Modell im Umgang mit Untertanen anderer Religionszugehörigkeit zurück und erklärten diese zu „Schutzbefohlenen“ („dhimmi“). Christen und Juden wurden damit rechtlich schlechter gestellt als Muslime und diskriminiert, etwa indem sie eine extra Kopfsteuer („dschizya“) zu entrichten und spezielle Kleidervorschriften zu beachten hatten. Sie genossen aber gleichzeitig besondere Autonomie („millet“). So konnten sie etwa in zivilrechtlichen Angelegenheiten eigene Gerichte anrufen. In der Praxis gab es zudem Grenzüberschreitungen, und bisweilen waren Nichtmuslime weniger Repressalien ausgesetzt als islamische Gruppierungen, die vom Staat als häretisch betrachtet und verfolgt wurden.
Mit dem Aufkommen ethnisch-religiös fundierter Nationalbewegungen auf dem Balkan, inneren Konflikten und außerpolitischem Druck geriet das traditionelle osmanische Modell des Umgangs mit einer multireligiösen Gesellschaft ins Wanken. Die „Neuordnung“ des Reiches im 19. Jahrhundert („Tanzimat“) hatte zum Ziel, den Staat zu modernisieren und seine Bewohner unabhängig ihrer religiösen, ethnischen oder sozialen Zugehörigkeit an ihn zu binden. Die Hoffnung, durch die Schaffung eines osmanischen „Bürgers“ mit gleichen Rechten und Pflichten die Loyalität aller Bewohner zu sichern und die Einheit des multireligiösen Reiches zu bewahren, scheiterte jedoch spätestens mit den geographischen, demographischen und ideologischen Verschiebungen durch die Balkankriege und den Ersten Weltkrieg.
Das multireligiöse Erbe im laizistischen Nationalstaat (Bedeutungen)
Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und einem nationalen Unabhängigkeitskrieg endete die Herrschaft der Dynastie Osman; Sultanat und Kalifat wurden abgeschafft. 1923 wurde die Republik Türkei proklamiert und die Hauptstadt nach Ankara verlegt. Eines der sechs Prinzipien des neuen Staates unter Führung Kemal Atatürks war die Trennung von Religion und Staat (Laizismus). In der Praxis kam es, neben der Assimilierung und Unterdrückung der nicht-türkischen Bevölkerungen, zu einer Privilegierung des sunnitischen Islam und der Ausbildung eines religiös weitgehend homogenen Nationalstaats. Der Anteil der Muslime war durch Flucht und Vertreibung aus den Balkanstaaten seit dem 19. Jahrhundert stetig gestiegen, während der Genozid an den Armeniern 1915 und der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch 1923 die christliche Präsenz in der Region beendeten. Anders als anderen religiösen Minderheiten wie den muslimischen Aleviten wurden den vor allem in Istanbul verbliebenen Armeniern, Griechen und Juden Minderheitenrechte zugebilligt. Die meisten verließen jedoch das Land nach der Einführung einer gegen Nichtmuslime gerichteten Vermögenssteuer in den 1940er-Jahren („varlık vergisi“) und gewalttätigen Übergriffen wie dem Pogrom von Istanbul 1955 oder wurden ausgewiesen. Während Nichtmuslime zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast die Hälfte der Bevölkerung stellten, liegt ihr Anteil heute bei weniger als einem Prozent. Der Umgang mit dem multireligiösen osmanischen Erbe in der Türkei birgt bis in die Gegenwart erhebliches Konfliktpotential.
weiterführende Literatur
Dionysios Stathakopoulos, A Short History of the Byzantine Empire, London 2014.
Karen Barkey, Empire of Difference: The Ottomans in Comparative Perspective, Cambridge 2008.
Klaus Kreiser / Christoph Neumann, Kleine Geschichte der Türkei, Stuttgart 2. Aufl. 2008.
Erik Jan Zürcher, Turkey: A Modern History, London 3. Aufl. 2010.
Hans-Lukas Kieser (Hg.), Turkey Beyond Nationalism: Towards Post-Nationalist Identities, London 2006.
Zitierempfehlung
Denise Klein, Istanbul / İstanbul, in: Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa, hg. für das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) v. Joachim Berger, Irene Dingel und Johannes Paulmann, Mainz 2016. URL: http://www.ieg-differences.eu/ortstermine/denise-klein-istanbul, URN: urn:nbn:de:0159-20161020194.
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Abbildungsnachweis
Wikimedia Commons, Aufnahme: Julian Nitzsche (2014), CC-BY-SA 3.0.