Lemberg / L’viv
von Cornelia Aust
Inhaltsverzeichnis
1 Innerjüdische und jüdisch-christliche Konflikte in der Frühen Neuzeit
1.1 Die Entstehung des Frankismus (Konstellationen)
1.2 Innerjüdische Konflikte und die Rolle der katholischen Kirche (Differenzen)
1.3 Vielfältige Identitäten (Bedeutungen)
2 Nationale Konflikte im 19. und 20. Jahrhundert
2.1 Ein politischer Mord (Konstellationen)
2.2 Von religiösen, ethnischen und sprachlichen Differenzen zur Idee der Nation (Differenzen)
2.3 Ende des Vielvölkerreiches (Bedeutungen)
3 Weiterführende Literatur
4 Zitierempfehlung
Innerjüdische und jüdisch-christliche Konflikte in der Frühen Neuzeit

Die Entstehung des Frankismus (Konstellationen)
Das heute ukrainische Lemberg (jiddisch Lemberg, polnisch Lwów, ukrainisch L’viv, russisch Lvov) war in der Frühen Neuzeit durch das Zusammenleben verschiedener christlicher Konfessionen und Juden geprägt. Seit der Gründung der Stadt Mitte des 13. Jahrhunderts lebten Juden in Lemberg, außerdem Christen der lateinischen (römischen), der armenischen und der orthodoxen Kirche. Im Laufe der Jahrhunderte kam es nicht nur zu Konflikten zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen, sondern auch innerhalb der jüdischen Bevölkerung. Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung mit den Frankisten. Im Juni 1757 und im September 1759 fanden zwei Disputationen zwischen Vertretern der jüdisch-religiösen Elite und jüdischen Anhängern Jacob Franks statt, die erste in Kamieniec Podolski, die zweite in Lemberg. Frank und seine Anhänger lehnten den Talmud, den zentralen Text des rabbinischen Judentums, ab. Während der zweiten Disputation trat Jacob Frank in der Lateinischen Kathedrale von Lemberg zum Katholizismus über, 3.000 Anhänger in Lemberg, Lublin und Warschau folgten ihm.
Frank, geboren 1726 in der polnischen Provinz Podolien, zog als Kind mit seiner Familie ins Osmanische Reich, wo er in enger Verbindung mit Anhängern des Sabbatianismus aufwuchs. Der Sabbatianismus umfasste die Lehren des osmanischen Juden Sabbatai Zvi, der Mitte des 17. Jahrhunderts als jüdischer Messias aufgetreten, jedoch 1666 zum Islam konvertiert war. 1755 kehrte Frank nach Polen-Litauen zurück, wo er in Podolien zahlreiche sabbatianistische Anhänger um sich sammelte.
Hatte das rabbinische Establishment in den Jahrzehnten zuvor sabbatianistische Gruppen meist ignoriert, versuchte es nun offensiv gegen Frank und seine Anhänger vorzugehen. Der jüdische Vierländerrat, die überregionale Vertretung der Juden in Polen, verhängte 1756 einen Bann gegen die Sabbatianisten. Außerdem schalteten die Rabbiner sowohl die polnischen Obrigkeiten als auch den Bischof von Kamieniec Podolski, Mikołaj Dembowski, ein. Der Versuch, den Sabbatianisten mit Hilfe der Obrigkeiten Herr zu werden, wandte sich jedoch gegen die Rabbiner, als sich die Sabbatianisten der katholischen Kirche als Gegner des Talmuds präsentierten. Dies kam den kirchlichen Obrigkeiten gelegen, da sie den Talmud als einen Grund für die angebliche Verderbtheit der Juden ansahen. Die erste Deputation 1757 endete mit einem Urteil Dembowskis zugunsten der Frankisten und der Anordnung Exemplare des Talmuds zu verbrennen. Nach Franks Konversion 1759 bezweifelte die katholische Kirche bald die Ernsthaftigkeit seines Glaubenswechsels. Nach seiner Verhaftung 1760 verbrachte Frank dreizehn Jahre im Kloster von Częstochowa (deutsch: Tschenstochau), wo er eine eigene Theologie entwickelte und den Frankismus inhaltlich ausgestaltete.
Innerjüdische Konflikte und die Rolle der katholischen Kirche (Differenzen)
Die Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern des traditionellen rabbinischen Judentums und den Anhängern des Sabbatianismus und dann des Frankismus – in Lemberg, in Podolien und innerhalb des gesamten europäischen Judentums – zeigen die zunehmenden Verwerfungen innerhalb der jüdischen Gemeinden Europas einschließlich des Osmanischen Reiches seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In dem Maße, in dem Laien die Führung der Gemeinden übernahmen und sich der Buchdruck verbreitete, verfiel die rabbinische Autorität. Sabbatianismus und Frankismus zeigen zudem, wie mobil die jüdische Bevölkerung war. Der Sabbatianismus entstand im Osmanischen Reich und verbreitete sich von dort nach West- und schwächer nach Osteuropa. Der Frankismus nahm ebenfalls im Osmanischen Reich seinen Ausgang, entfaltete seine größte Wirkung jedoch unter den polnischen Juden.
Gleichzeitig zeigen die Disputationen das spannungsgeladene Verhältnis zwischen den jüdischen Gemeinden Europas und den christlichen Kirchen, hier der katholischen Kirche. Obgleich Zwangskonversionen von Juden zum Katholizismus in Polen-Litauen selten waren und die Zahl jüdischer Konvertiten gering blieb, bestand innerhalb der katholischen Kirche durchaus Interesse, Juden zur Konversion zu bewegen. In Lemberg nutzte die Kirche den Streit zwischen den rabbinischen Autoritäten und den Frankisten geschickt für ihre eigenen Zwecke. In der zweiten Disputation 1759 bestätigten die Frankisten außerdem den falschen christlichen Vorwurf, dass der Talmud Juden vorschreibe, christliches Blut für rituelle Zwecke zu verwenden. Die katholische Kirche nutzte hier die innerjüdische Auseinandersetzung, um ihre eigenen antijüdischen Positionen zu bestätigen. Trotzdem stand die katholische Kirche den Konvertiten mit Misstrauen gegenüber. In Warschau, wo die Mehrzahl der konvertierten Frankisten lebte, bildeten sie bis ins 19. Jahrhundert eine abgeschlossene, nur nominell römisch-katholisch Gruppe, die den Sabbat einhielt, ihre Söhne beschnitt und nur untereinander heiratete.
Vielfältige Identitäten (Bedeutungen)
Die Auseinandersetzungen zwischen Sabbatianisten und Frankisten auf der einen und Vertretern des rabbinischen Judentums auf der anderen Seite zeigen, wie heterogen das Judentum seit dem 17. Jahrhundert war. Diese Heterogenität nahm in den folgenden Jahrzehnten mit der Entstehung des Chassidismus, einer neuen volksnahen religiösen Bewegung im Judentum, und der Haskalah, der jüdischen Aufklärung, weiter zu. Gleichzeitig verdeutlichen die Religionswechsel der Sabbiatanisten und Frankisten zum Islam und zum Katholizismus eine gewisse Durchlässigkeit zwischen den Religionen und schufen neue Herausforderungen für die religiösen Autoritäten auf allen Seiten.
Nationale Konflikte im 19. und 20. Jahrhundert

Ein politischer Mord (Konstellationen)
Im 19. und 20. Jahrhundert wurde das multireligiöse und multiethnische Lemberg zunehmend zum Austragungsort nationaler Konflikte. Am 12. April 1908 betrat der Student der Lemberger Universität und Aktivist der ukrainischen Sozialdemokraten Myroslav Sičyns’kyj das Audienzzimmer des galizischen Statthalters in Lemberg, Graf Andrzej Potocki, und erschoss den polnischen Adligen mit Hinweis auf das Leiden der ukrainischen Bauern. Als das Attentat bekannt wurde, kam es in der Stadt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen vor allem zwischen polnischen und ukrainischen Studenten. Ein Auslöser für das Attentat waren offenbar Manipulationen bei den Landtagswahlen 1908 durch die polnisch-galizische Administration.
Von religiösen, ethnischen und sprachlichen Differenzen zur Idee der Nation (Differenzen)
In Lemberg waren sprachliche, religiöse, ethnische und soziale Zugehörigkeiten seit Jahrhunderten konfliktreich miteinander verschränkt. In der Zeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik gehörte Lemberg zur Woiwodschaft Ruthenien (auch Rothreußen) in der Provinz Kleinpolen und besaß das Magdeburger Stadtrecht. Die religiöse Zugehörigkeit der Stadtbewohner war vielfältig und deckte sich nicht immer mit der sprachlichen oder ethnischen Zugehörigkeit. Zu den meist römisch-katholischen Polen traten armenische Katholiken, orthodoxe Ruthenen (die historische Bezeichnung der Ukrainer) und seit der Union von Brest 1596 griechisch-katholische Ruthenen (Unierte) hinzu, die dem orthodoxen Ritus folgten, aber die Oberherrschaft des Papstes in Rom anerkannten. Außerdem lebten Juden, Deutsche verschiedener Konfessionen und kleinere Minderheiten in der Stadt.
Mit der ersten Teilung Polens 1772 wurde Lemberg zum Verwaltungssitz des neu geschaffenen Kronlandes Galizien und Lodomerien innerhalb der Habsburgermonarchie. Das Kronland war geteilt in einen westgalizischen, stärker polnisch geprägten Teil mit dem Zentrum Krakau und einen ostgalizischen, stärker ruthenisch geprägten Teil mit dem Zentrum Lemberg. In der Stadt Lemberg stellte die polnische Stadtbevölkerung die Mehrheit, während im Umland vor allem Ruthenen lebten. Die Verwaltung wurde vorerst in deutscher Sprache geführt. Außerdem stärkte die österreichische Kaiserin Maria Theresia die griechisch-katholische Kirche, die sie 1774 mit den römisch- und armenisch-katholischen Kirchen gleichstellte. Die Herausbildung von drei nationalen Gruppen als moderne Nationen – Polen, Ukrainern und Juden – vollzog sich jedoch langsam. Der Aufstand von 1848 und die damit einhergehende Bauernbefreiung brachten eine stärkere Selbstverwaltung und mehr Teilhabemöglichkeiten für die Stadtbevölkerung, stellten aber ukrainische Bauern und polnische Adelige stärker gegeneinander.
Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 erhielten auch die Kronländer, darunter Galizien, mehr Autonomie. In der Folge trat der Nationalitätenkonflikt immer stärker hervor. Das Autonomiestatut sicherte den Polen die Vorherrschaft, Polnisch wurde Amtssprache, in Schulen und an der Lemberger Universität wurde nun statt auf Latein auf Polnisch unterrichtet. Dies führte zu einer zunehmenden „Polonisierung“ Lembergs, wo im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Polen die Hälfte der Stadtbevölkerung ausmachten. Ein knappes Drittel waren Juden, die von der Habsburger Obrigkeit als Religionsgemeinschaft angesehen wurden. Nur ein Sechstel der Stadtbevölkerung waren Ukrainer, die aber in der Umgebung der Stadt und in ganz Ostgalizien eine Mehrheit von 60 Prozent der Bevölkerung stellten. Erst nach 1890 entwickelte sich ein ukrainischer Nationalismus, in dem sich die Idee der griechisch-katholischen Kirche als Nationalkirche durchsetzte. Soziale, religiöse und sprachliche Differenzen frühneuzeitlichen Ursprungs wurden in nationale Begriffe gefasst, wobei es politisch zu dieser Zeit ausschließlich um die Autonomie innerhalb des Habsburgerreiches ging.
Die Entstehung von Vereinen, Parteien und Genossenschaften spielte sich zunehmend in einer nationalen Konkurrenz ab, indem polnische, ukrainische und jüdische Organisationen für die jeweils eigene Nationalität geschaffen wurden. Die nationalen Spannungen nahmen zu. Lemberg steht hier als Beispiel für die Herausbildung der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie und in ganz Ostmitteleuropa, wo überall um Sprache in Ämtern, Schulen und Universitäten sowie politische Partizipation gestritten wurde. Im Ersten Weltkrieg eskalierten die Nationalitätenkonflikte, befördert durch die Hoffnung auf nationale Unabhängigkeit. Gegenseitige Verdächtigungen und Beschuldigungen zwischen Polen und Ukrainern als auch Juden führten zu weiterem Blutvergießen. Nach dem Eingreifen sowjetischer Truppen fand die Stadt erst 1920 als Teil der wiedergegründeten polnischen Republik Frieden.
Ende des Vielvölkerreiches (Bedeutungen)
Auch wenn sich die Beziehungen zwischen den nationalen Gruppen bis 1939 beruhigten, gingen alltägliches Zusammenleben und politische Radikalisierung Hand in Hand. Mit der Besetzung Lembergs und Ostgaliziens 1939 durch die Sowjetunion aufgrund des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Pakts und dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1941 kam es wie überall in Ostmittel- und Osteuropa zu Krieg, ethnischer Säuberung und Völkermord an den osteuropäischen Juden. Ein Großteil der Lemberger Bevölkerung wurde im Zweiten Weltkrieg Opfer von Mord und groß angelegten Bevölkerungsverschiebungen, so dass 1948 nur noch ein Zehntel der ursprünglichen Einwohner von 1939 in der Stadt lebten. Damit steht Lemberg exemplarisch für die „Erfindung der Nationen“ und die Entwicklung von Nationalbewegungen in Ostmitteleuropa ab dem 19. Jahrhundert als auch für die Schrecken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und das Ende eines – nicht immer harmonischen – multiethnischen, multireligiösen und vielsprachigen Zusammenlebens.
weiterführende Literatur
zu Abschnitt 1 (Innerjüdische und jüdisch-christliche Konflikte in der Frühen Neuzeit)
Jan Doktór, Talmud und Disputationen – zum christlich-jüdischen Diskurs im 18. Jahrhundert, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2003), S. 105–119.
Paweł Maciejko, The Mixed Multitude. Jacob Frank and the Frankist Movement, 1755–1816, Phildelphia 2011.
David B. Ruderman, Early Modern Jewry. A New Cultural History, Princeton 2010.
Magda Teter, Jews and Heretics in Catholic Poland. A Beleaguered Church in the Post-Reformation Era, Cambridge 2006.
Christophe von Werdt, Gemeinschaft und Gesellschaft im multikonfessionellen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lemberg, in: Carsten Goehrke u.a. (Hg.), Städte im östlichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2006, S. 85–102.
zu Abschnitt 2 (Nationale Konflikte im 19. und 20. Jahrhundert)
Kerstin S. Jobst, Graf Andrzej Potocki. Lemberg, 12. April 1908, in: Michael Sommer (Hg.), Politische Morde. Vom Altertum bis zur Gegenwart, Darmstadt 2005, S. 165–173.
Christoph Mick, Nationalismus und Modernisierung in Lemberg 1867–1914, in: Carsten Goehrke u.a. (Hg.), Städte im östlichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2006, S. 171–213.
Timothy Snyder, The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569–1999, New Haven 2003.
Philipp Ther, Chancen und Untergang einer multinationalen Stadt. Die Beziehungen zwischen den Nationalitäten in Lemberg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Philipp Ther u.a. (Hg.), Nationalitätenkonflikte im 20. Jahrhundert. Ursachen von inter-ethnischer Gewalt im Vergleich, Wiesbaden 2001, S. 123–145.
Zitierempfehlung
Cornelia Aust, Lemberg / L’viv, in: Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa, hg. für das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) v. Joachim Berger, Irene Dingel und Johannes Paulmann, Mainz 2016. URL: http://www.ieg-differences.eu/ortstermine/cornelia-aust-lemberg, URN: urn:nbn:de:0159-20161020244.
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Abbildungsnachweis
Beide Bilder: Wikimedia Commons – gemeinfrei