Wittenberg

Inhaltsverzeichnis
1 Der Bruch mit Rom (Konstellationen)
2 Ein neues Verständnis des christlichen Glaubens (Differenzen)
3 Der reformatorische Impuls (Bedeutungen)
4 Weiterführende Literatur
5 Zitierempfehlung
Der Bruch mit Rom (Konstellationen)
Am Vormittag des 10. Dezember 1520 kam es vor dem östlichen Stadttor Wittenbergs, dem Elstertor, zu einem Spektakel: Sammlungen des Kirchenrechts, ein Beichtbuch und einige andere theologische Schriften wurden auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Ihren Höhepunkt erreichte die Bücherverbrennung, als Martin Luther (1483–1546) dasjenige Schreiben dem Feuer übergab, mit dem der Papst ihm den Ausschluss aus der Kirche angedroht hatte. Diese Szene war eine zentrale Weichenstellung in der Geschichte der Reformation, weil in ihr der endgültige Bruch zwischen der evangelischen Bewegung um Martin Luther und der römischen Papstkirche zum Ausdruck kam.
Schon seit 1517 hatte Luther, und mit ihm ein Kreis von Gleichgesinnten in Wittenberg, nachdrücklich eine „Reformation“, eine „Verbesserung“ der Papstkirche gefordert. Im Mittelpunkt ihrer Vorstellungen stand dabei die Ausrichtung des gesamten kirchlichen Lebens am „Evangelium“, d.h. an der ausschließlich im Glauben ergriffenen und nur durch die biblischen Schriften verkündeten Gnade Gottes. Gegen die Wittenberger Forderungen hatte sich allerdings schnell starker Widerstand erhoben. Bereits 1518 war in Rom ein Prozess gegen Luther eingeleitet worden, der Luthers Ausschluss aus der Kirche als „Ketzer“ zum Ziel hatte. Die am 15. Juni 1520 veröffentlichte „Bannandrohungsbulle“, die Luther letztmalig zur Zurücknahme der Forderungen und zum Gehorsam gegenüber dem Papst aufforderte, war Teil dieses Prozesses.
Für die Wittenberger Reformatoren war diese Drohung mit dem Ausschluss aus der Kirche nunmehr der abschließende Beweis dafür, dass die Papstkirche sowohl zur Reformation unfähig als auch dem Evangelium feindlich gesinnt war. Umgehend warf Luther seinerseits der Papstkirche öffentlich „Ketzerei“ vor. Damit eröffnete Luther im übertragenen Sinn selbst einen Ketzerprozess gegen die Papstkirche, den er in verschiedenen Büchern in der zweiten Jahreshälfte 1520 führte: Luther bezeichnete den Papst darin wiederholt als den „Antichrist“. In den Flammen vor dem Elstertor wurde dieser Ketzerprozess symbolisch abgeschlossen. Der Wittenberger Reformator und der um ihn versammelte Kreis tat hier das, was man damals üblicherweise mit „Ketzern“ und ihren Schriften zu tun pflegte. Die Reaktion blieb nicht aus: Im Januar 1521 wurde Luther vom Papst offiziell aus der Papstkirche ausgeschlossen.
Ein neues Verständnis des christlichen Glaubens (Differenzen)
Kritik an der Papstkirche war schon vor Luther ebenso verbreitet wie Forderungen nach einer Verbesserung des kirchliche Lebens: Die unzureichende Ausbildung der Priester für die Predigt und Seelsorge, die fehlende Diszplin in der christlichen Lebensführung, eine weithin empfundene Geldgier des Papsttums in Rom und vor allem der Ablass, also ein durch äußere Werke (Almosen, Gebete, Geldzahlung) bewirkter Nachlass auf die Sündenstrafen – all das stand im Visier der damaligen Kirchenkritiker. Luthers Forderung nach einer Reformation der Kirche, die er ab 1517 im Streit um den Ablass das erste Mal öffentlich erhob, nahm diese Tradition auf. Allerdings hatte Luthers Kritik, wie die führenden Vertreter der Papstkirche schnell merkten, einen anderen Ton. Denn Luther stellte seiner Kritik einen positiven Entwurf des christlichen Lebens zur Seite, der auf neue Art und Weise den Glauben in den Mittelpunkt rückte.
Luthers religiöse Vorstellungen waren durch die Erfahrungen geprägt, die er als Augustinereremit, als Angehöriger eines strengen Mönchsordens, seit 1505 gemacht hat. Seine Stellung als Theologieprofessor an der jungen Universität Wittenberg ab 1512 gab ihm die Gelegenheit, diese Erfahrungen gedanklich zu durchdringen und in der Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften zu vertiefen. Dabei kam Luther zu dem Schluss, dass Gott sich den Menschen zuwendet, indem er ihnen den Glauben an seine Gnade und Liebe schenkt. Der Ort, wo der Mensch diese Gnade und Liebe Gottes erlebt, ist für Luther das Gewissen, das Innerste jedes einzelnen Menschen. Hier steht jeder Mensch in einer unmittelbaren Beziehung zu Gott, die weder von den äußeren Leistungen des Einzelnen noch der äußeren Macht einer Kirche abhängt. Nur die biblischen Schriften geben, wenn der Einzelne auf sie hört und ihrer Zusage vertraut, über diese Beziehung zu Gott Auskunft. Luthers zentraler Begriff für das, was den Glauben ausmacht, war deshalb „Freiheit“.
Von 1517 an veröffentlichte Luther eine Vielzahl an Schriften, oft Predigten, in denen er diese „Freiheit“ des Glaubens näher beschrieb: Wie sie Hoffnung und Zuversicht auf Gottes Gnade gibt; wie sie durch die Predigt, die Taufe und das Abendmahl in der kirchlichen Gemeinschaft gestärkt wird; wie sie angesichts des Todes tröstet; wie sie die Menschen in die Verantwortung für ihre Mitmenschen ruft; wie die ganze Gesellschaft in ihrem Sinn verändert werden muss. Im Jahr 1520 fasste Luther seine Überlegungen in vier Schriften zusammen: „Von den guten Werken“, „An den christlichen Adel deutscher Nationen, von des christlichen Standes Besserung“, „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ und „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“. In ihnen wies Luther einem christlichen und kirchlichen Leben den Weg, das auf die Papstkirche nicht angewiesen war.
Der reformatorische Impuls (Bedeutungen)
Luthers Kritik an der Papstkirche hatte ihn bekannt gemacht. Seine Schriften über die „christliche Freiheit“, die er meist auf Deutsch veröffentlichte, machten ihn populär. Der im Dezember 1520 endgültig vollzogene Bruch mit Rom wurde zur Inspiration und zum Vorbild auch für andere Reformationsbewegungen, die vor allem in Zürich und später in Genf ihre eigenen „Verbesserungen“ der Papstkirche mit ihren eigenen Vorstellungen „evangelischer Freiheit“ in Lebens riefen. Die um Luther versammelte Bewegung in Wittenberg leitete damit die konfessionelle Differenzierung des europäischen Christentums ein.
Für Luthers weitreichende, manchmal „weltgeschichtlich“ genannte Wirkung war aber auch die Unterstützung in der Universität wichtig, wo sich etwa mit Philipp Melanchthon (1497–1560) und Johannes Agricola (1492–1566) glänzende Köpfe an seine Seite stellten, und natürlich auch der Rückhalt, den Luther durch seinen Landesherrn Friedrich den Weisen (1463–1525) bzw. dessen Berater Georg Spalatin (1484–1545) bekam. Ihre Bedeutung ist in den folgenden Jahrhunderten gegenüber der Luthers manchmal verblasst, wie der Stich der Szene vor dem Elstertor aus dem späten 18. Jahrhundert zeigt. Aufgerufen hatte zur Bücherverbrennung übrigens Melanchthon, und es war wohl Agricola gewesen, der vor Luthers Auftritt das Geschehen organisierte.
weiterführende Literatur
Irene Dingel / Volker Leppin (Hg.), Das Reformatorenlexikon, Darmstadt 2014.
Scott Hendrix, Luther and the Papacy. Stages in a Reformation Conflict, Philadelphia 1981.
Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt/M. 2. Aufl. 2009.
Armin Kohnle, Martin Luther. Reformator, Ketzer, Ehemann, Leipzig 2015.
Natalie Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533), Tübingen 2014.
Zitierempfehlung
Christopher Voigt-Goy, Wittenberg, in: Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa, hg. für das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) v. Joachim Berger, Irene Dingel und Johannes Paulmann, Mainz 2016. URL: http://www.ieg-differences.eu/ortstermine/christopher-voigt-goy-wittenberg, URN: urn:nbn:de:0159-20161020480.
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Abbildungsnachweis
Wikimedia Commons – gemeinfrei