Einführung

An den Orten des Geschehens – zum Umgang mit Differenz im Europa der Neuzeit

von Joachim Berger

Die Open Access-Publikation „Ortstermine“ ist am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) im laufenden Forschungsprogramm zum Umgang mit Differenz im Europa der Neuzeit entstanden. Sie soll zum einen grundlegende Informationen zum Umgang mit Differenz in Europa bereitstellen und zum anderen die Forschungsperspektiven und -ergebnisse des IEG anschaulich in eine breitere Öffentlichkeit vermitteln. „Ortstermine“ richtet sich daher an alle, die ein ausgeprägtes Interesse für Geschichte, Religion, Politik und gesellschaftliche Fragen haben. | Abs. 1

Die einzelnen Artikel sind ohne Fachkenntnisse verständlich. Diese Einführung wendet sich gezielt an diejenigen, die sich ausführlicher über die wissenschaftlichen Fragestellungen informieren möchten, welche die Autorinnen und Autoren beim Schreiben der Artikel der „Ortstermine“ geleitet haben. Die Einführung umreißt daher (1.) zunächst kurz das laufende Forschungsprogramm des IEG. Sodann stellt sie (2.) die konzeptionellen Überlegungen vor, die für die „Ortstermine“ maßgeblich waren, und zeigt exemplarisch, wie die Konzeption umgesetzt wurde. Abschließend werden (3.) einige übergreifende Ergebnisse skizziert. | Abs. 2

INHALTSVERZEICHNIS

1. Umgang mit Differenz – ein Forschungsprogramm zur Geschichte Europas in der Neuzeit
2. Orte des Umgangs mit Differenz – Konzeption und Umsetzung
2.1. Wo liegt das Problem? Orte als Zugang
2.2. Bedeutungen: Modelle und Exempel
2.3. Glaubensfragen? Differenzmarkierungen
2.4. Verhandlungssache? Typen des Umgangs mit Differenz
3. Ausblick
4. Weiterführende Literatur
5. Einzelnachweise
6. Zitierempfehlung

Umgang mit Differenz – ein Forschungsprogramm zur Geschichte Europas in der Neuzeit

Das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte erforscht die historischen Grundlagen Europas in der Neuzeit[1]. Seine Forschungen werden interdisziplinär von der Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte und der Abteilung für Universalgeschichte entwickelt. Sie reichen epochenübergreifend vom Beginn der Neuzeit bis in die Zeitgeschichte. Europa wird in grenzüberschreitender Perspektive als ein Kommunikationsraum untersucht, dessen Binnen- und Außengrenzen durch vielfältige transkulturelle Prozesse immer wieder neu geprägt wurden. | Abs. 3

Das Leitthema des von 2012 bis 2017 laufenden Forschungsprogramms des IEG ist der Umgang mit Differenz im Europa der Neuzeit. Im Zentrum stehen die verschiedenen Formen, Akteure, Entwicklungen und Konjunkturen im zumeist konfliktbehafteten Umgang mit Differenz in Religion, Gesellschaft und Politik seit ca. 1500. Europa wird als ein Laboratorium für die Entwicklung von Formen der Regulierung und Begrenzung, aber auch der Herstellung und Bewahrung von Andersartigkeit und Ungleichheit aufgefasst. Die konfliktreiche Dynamik des Raumes „Europa“ rührt aus den vielfältigen Interaktionen her, die zu Austausch, Aneignungen und Integration sowie zu Abgrenzung und Konfrontation auf dem Kontinent und jenseits seiner vielfältigen Grenzen führten. | Abs. 4

„Differenz“ wird in den Forschungen des IEG zunächst im Sinn von Dissens und Konflikt verstanden, aber auch als praktischer Vollzug von Unterscheidungen im Sinn von „Differenzierungen“ begriffen. Denn das Hauptinteresse der Forschungen des IEG richtet sich auf die wandelbaren historischen Formen des Umgangs mit Differenz. Dieser Umgang vollzog sich prozesshaft und stets in Beziehung zu jeweils wechselnden „Anderen“. Unterscheidungen, die in der sozialen Praxis vollzogen wurden, und Unterschiede, die als bereits vorhanden oder gar als „natürlich“ wahrgenommen wurden, waren wechselseitig aufeinander bezogen. | Abs. 5

Das laufende Forschungsprogramm wird in drei Forschungsbereichen umgesetzt. Forschungsbereich 1 arbeitet epochenübergreifend den Wandel der lebensweltlichen Verflechtungen von Religion und Politik heraus. Analysiert werden Versuche der Überwindung von Differenz durch das Schaffen neuer Ordnungsmodelle und deren mediale Verbreitung, die Verfestigung von Differenz durch konfessionelle Identitätsbildung oder auch die Unterdrückung von Differenz durch Gewalt. Forschungsbereich 2 erschließt an dem Schlüsselbegriff der „Humanität“ eine transnationale Perspektive auf die Wechselbeziehungen zwischen Erfahrungen und Praktiken sowie Werthaltungen, Vorstellungen und Begrifflichkeiten bei der ambivalenten Bewältigung von Differenz. Mit „Kultureller Souveränität“ erprobt Forschungsbereich 3 schwerpunktmäßig für die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein heuristisches Instrument, das die Ermöglichung von Differenz im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) in den Bereichen Nation, Religion und Kultur neu fasst. | Abs. 6

Die Arbeit in den drei Forschungsbereichen wird durch gemeinsame Fragestellungen verbunden. Sie richten sich erstens auf die Bedeutung vielschichtiger Grenzen und Grenzüberschreitungen für den Umgang mit Differenz, zweitens auf den Wandel bestimmter Schlüsselbegriffe zur Überbrückung von Differenz und drittens darauf, wie sich die sogenannte funktionale Differenzierung in der Neuzeit auf die Entstehung und Bewältigung von Differenz auswirkte; dies wird am Beispiel der sich wandelnden Verflechtungen von Religion, Gesellschaft und Politik verfolgt. Diese gemeinsamen Fragestellungen werden in den drei Forschungsbereichen in Projektgruppen und Einzelprojekten verfolgt. Als ein gemeinsames Ergebnis dieser Forschungsarbeit entstand die Publikation „Ortstermine“. | Abs. 7

Orte des Umgangs mit Differenz – Konzeption und Umsetzung

„Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa“ setzt sich aus derzeit 60 Artikeln zusammen, die aus den Forschungsprojekten des IEG im laufenden Forschungsprogramm entwickelt und verfasst worden sind. Jeder Artikel behandelt einen „Ort“. Bei der Auswahl der Orte und der damit verknüpften Inhalte waren – ausgehend von den zentralen Fragestellungen des IEG-Forschungsprogramms – die folgenden konzeptionellen Überlegungen leitend. | Abs. 8

Wo liegt das Problem? Orte als Zugang

„Ortstermine“ bietet einen räumlich-problembezogenen Zugang zur Geschichte des Umgangs mit Differenz. Die Publikation erschließt die Geschichte Europas über bestimmte Orte, die Kristallisationspunkte von Ideen, Praktiken und Strukturen sind, und in denen sich exemplarisch der vielfältige und konfliktreiche Umgang mit Differenz verdichtet. Im Zentrum der Artikel stehen nicht die Orte selbst, also ihre topographische Lage, Sozialstruktur oder Architektur, sondern eine spezifische historische Problemkonstellation, die sich über die Akteure und Ereignisse erschließt, die mit dem Ort verbunden sind.[2] | Abs. 9

Entscheidendes Auswahlkriterium für die Liste der zu behandelnden Orte war nicht ihr Charakter als „Erinnerungsorte“, also ihre andauernde Präsenz in einem – wo und wie auch immer zu bestimmenden – kollektiven Gedächtnis europäischer Gesellschaften, sondern die Relevanz des historischen Geschehens an diesem Ort für den sich wandelnden Umgang mit Differenz in Europa. Ausgewählt wurden nicht nur europäische Metropolen, sondern auch kleine, scheinbar „unbedeutende“ Orte wie das flämische Oostakker, das schweizerische Safenwil oder das thüringische Ronneburg. Manche der ausgewählten Orte sind mehrfach „codiert“, das heißt, dass sich mit ihnen Ereignisse, Akteure und Problemkonstellationen verbinden, die auf unterschiedliche Dimensionen des Umgangs mit Differenz in Europa verweisen. Diese Orte werden in Artikeln mit zwei oder drei Teilabschnitten behandelt. | Abs. 10

So wurde im frühneuzeitlichen Wilna einerseits eine politisch weitreichende Einigung zwischen Orthodoxen und Protestanten getroffen, andererseits war die Stadt ein Zentrum des osteuropäischen Judentums, dessen Strömungen sich teilweise, wie der Chassidismus, weltweit verbreiteten. In Krakau bietet die dortige Universität ein Beispiel für internationalen wissenschaftlichen Austausch über politische Systemgrenzen hinweg; der jüdische Bezirk Krakaus (Kazimierz), der von der NS-deutschen Vernichtung der europäischen Juden besonders betroffen war, entwickelte sich nach 1989 zu einem Ort des christlich-jüdischen Dialogs. Und Genf war nicht nur die Wirkungsstätte des Reformators Johannes Calvin, sondern avancierte seit dem 19. Jahrhundert zu einem Sitz zahlreicher internationaler Organisationen. | Abs. 11

In der Gesamtschau bieten die „Ortstermine“ einen problemorientierten Zugang zu der Frage, wie bzw. wo Europa zu verorten sei. Behandelt werden zum einen Orte wie Paris, Prag oder Wittenberg, die über die Jahrhunderte hinweg ohne weitere Diskussion zu „Europa“ gerechnet wurden. Zum anderen wurden Artikel zu solchen Orten aufgenommen, deren Zugehörigkeit zu „Europa“ immer wieder – zum Teil bis heute – umstritten war (z.B. Istanbul oder Sankt Petersburg), oder die auf anderen Kontinenten lokalisiert sind, an denen aber Kernfragen des „europäischen“ Umgangs mit Differenz verhandelt wurden (wie z.B. in St. Louis, Alexandria oder auf den Galápagos-Inseln). Dies entspricht der am IEG etablierten Grundannahme von Europa als relationalem Raum, der sich durch Prozesse kommunikativer Teilhabe, interkultureller Interaktion, der Zirkulation und des Transfers von Ideen, Gütern und Menschen, aber auch der Abwehr und Abgrenzung stets von neuem konstituierte. Denn unabhängig von ihrer geographischen Lage verknüpfen sich mit all diesen Orten Ereignisse, Personen und Strukturen, die entweder bereits die Zeitgenossen bewusst mit „Europa“ verbanden (bzw. davon abgrenzten), oder die sich in der Rückschau mit solchen Strukturen und Konstellationen verbinden, die für die Erforschung des Umgangs mit Differenz in Europa und durch „Europäer“ aufschlussreich sind. | Abs. 12

Bedeutungen: Modelle und Exempel

Entscheidend für die Aufnahme eines Orts in die „Ortstermine“ war also seine Bedeutung für die Erforschung des Umgangs mit Andersartigkeit und Ungleichheit in der europäischen Geschichte. Diese „Bedeutung“ der Orte kann sich in zweierlei Hinsicht ausdrücken: Zum einen hatten die Geschehnisse, die sich an den behandelten Orten ereigneten, in dem Sinn „Folgen“[3], dass die mit ihnen verbundenen Konflikte und Lösungsstrategien mittel- und längerfristig struktur- und modellbildend wirkten. Zum anderen stehen sie exemplarisch für eine bestimmte, auch andernorts anzutreffende Problemkonstellation, die Aufschluss über grundlegende Mechanismen, Strukturen, Denk- und Verhaltensmuster in der historischen Entwicklung Europas geben kann. | Abs. 13

Der modellbildende Charakter der Geschehnisse und ihrer „Folgen“, die von einem bestimmten Ort ausgingen, sei an einigen Beispielen veranschaulicht, in denen Konflikte und Lösungsstrategien im Zentrum stehen, die mit der religiösen Pluralisierung Europas verbunden waren. | Abs. 14

So vertraten in Magdeburg um die Mitte des 16. Jahrhunderts evangelische Theologen öffentlich ein aktives politisches Widerstandsrecht, „das von späteren Staatstheoretikern, insbesondere im reformierten Europa, aufgenommen und weiterentwickelt wurde“.[4] Von Zürich aus entwickelten Huldrych Zwingli, Heinrich Bullinger und ihre Gesinnungsgenossen eine „andere Reformation“ für die Schweiz, die sich von der maßgeblich von Luther beeinflussten Reformation im Alten Reich abhob.[5] Auf dem Konzil von Trient (1545–1563) schließlich konsolidierte sich die römisch-katholische Kirche, indem sie sich sowohl nach außen vom Protestantismus durch theologische Klärungen („Gegenreformation“) abgrenzte, als auch nach innen Missstände abzustellen suchte („Katholische Reform“). Die Folgewirkungen des Trienter Konzils wurden und werden zwischen den Polen „Modernisierung“ und „Konservativismus“ ambivalent bewertet.[6] | Abs. 15

Im böhmischen Kuttenberg wurde 1485 ein Frieden abgeschlossen, der als der erste innerchristliche Religionsfrieden angesehen werden kann. Er trug insofern Modellcharakter, als sich vertragliche Regelungen in der Folge als eine mögliche Lösungsstrategie für religiös begründete Konflikte etablierten – „neben der militärischen Durchsetzung, der politischen Unterdrückung einer Minderheit und dem Religionsgespräch als Einigungsinstrument“.[7] Ein gutes Jahrhundert später wurden in Nantes Regelungen für Frankreich getroffen, die „in ganz Europa als Modell für die Einhegung religiöser Konflikte durch einen staatlich garantierten Minderheitenschutz“ galten. In „Nantes“ und ähnlichen Duldungsedikten in anderen Staaten lassen sich zugleich „erste Ansätze zu einem Auseinandertreten von Politik und Religion und einer weltanschaulichen Neutralität des Staates“ erkennen.[8] | Abs. 16

Waren die beteiligten und betroffenen Konfessionen in diesen innerchristlichen Regelungen noch relativ klar umrissen, so finden sich bereits in der Frühen Neuzeit Orte, an denen Modelle religiöser Pluralität öffentlich propagiert oder mehr oder weniger stillschweigend praktiziert wurden – Modelle, welche die theologisch markierten „Grenzen“ der christlichen Konfessionen überschritten. Mit dem Städtchen Raków in Polen beispielsweise ist das Wirken des Predigers und Gymnasialprofessor Johannes Crell (1590–1633) verbunden, der forderte, dass alle religiösen Gruppierungen in einem Gemeinwesen prinzipiell zu dulden seien, „sofern sie sich an die geltenden Gesetze hielten“.[9] Die Ideen Crells und anderer Sozinianer wurden in Westeuropa breit rezipiert und bereiteten die Toleranzdebatten in der Zeit der Aufklärung mit vor. Im Vergleich zu diesen in Druckschriften verbreiteten Denkmodellen war es im Amsterdam des 17. Jahrhunderts die religiöse Praxis, die, wenngleich in Einzelfällen, auf ein „Phänomen der Moderne“ verweist – „die Existenz von Individuen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören“.[10] Im 20. Jahrhundert lassen sich auf der ökumenischen Konferenz von Oxford (1937) die internationalen Bemühungen der christlichen Kirchen und individueller Christen nachzeichnen, auf die als bedrohlich wahrgenommenen Entwicklungen zu religiös pluralen und „säkularen“ Gesellschaften zu reagieren. Zugleich zeichnete sich am Horizont bereits die „globale Diversität des christlichen Glaubens“ ab.[11] | Abs. 17

Der exemplarische Charakter der Problemkonstellationen, die sich an einen bestimmten Ort anlagern können, sei ebenfalls an einigen Beispielen erläutert. Sie stehen beispielhaft für in ganz Europa anzutreffende Bestrebungen, Andersartigkeit und Ungleichheit durch die Berufung auf übergreifende Zugehörigkeiten – wie „Nation“, „Menschheit“ oder „Zivilisation“ – zu überbrücken oder einzuebnen. | Abs. 18

Zunächst führen zwei Städte vor Augen, dass die „gemeinsamen“ und „geteilten“ Erinnerungen, die verschiedene Gruppen an bestimmte Orte knüpften, zugleich verbindend und trennend sein konnten. Dies gilt sowohl auf lokaler, als auch auf nationaler oder gar europäischer Ebene. In der Stadt Augsburg feierte der evangelisch-lutherische Bevölkerungsteil bereits seit 1650 zur Erinnerung an den in Münster und Osnabrück geschlossenen Westfälischen Frieden (1648) ein jährliches „Friedensfest“, dem sich die Katholiken erst 1984 anschlossen – für sie markierte der Friede einen Positionsverlust.[12] Die Erinnerung an den Warschauer Aufstand von 1944 ist doppelt „geteilt“: Zum einen besteht in der polnischen Gesellschaft eine Kluft zwischen der Erinnerung an einen „heldenhaften Kampf“ und der Erinnerung an eine „nationale Katastrophe“ mit über 200.000 zivilen Opfern; zum anderen wird mit „Warschau“ in Polen und Deutschland ganz Unterschiedliches verbunden. Europäisch ausweiten lässt sich allein die Erinnerung an die zivilen Opfer, während für das Gedenken an die Kriegsgefallenen der Nationalstaat zuständig erscheint.[13] | Abs. 19

Für die „Erfindung der Nationen“ und die Entwicklung von Nationalbewegungen seit dem 19. Jahrhundert bietet die multiethnische und multireligiöse Stadt Lemberg (L’viv) ein besonders anschauliches Beispiel.[14] Die Hafenstadt Nantes als ein Zentrum des transatlantischen Sklavenhandels und die Ägäisinsel Chios, 1822 Schauplatz eines osmanisch-muslimischen „Massakers“ gegen die dortige griechisch-christliche Bevölkerung, wurden einerseits zu Symbolen für die „unmenschlichen“ Praktiken und Verbrechen, die sich mit diesen Orten verbanden. Andererseits stehen sie auch für die europaweite Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Bewegungen, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Namen der „Humanität“ (Menschheit und Menschlichkeit) gegen diese Praktiken protestierten.[15] Im Verlauf des 19. Jahrhunderts geriet die Idee der Zivilisierungsmission, die davon ausging, dass sich kulturelle Differenzen durch Erziehung und Akkulturation überwinden ließen, zunehmend in Widerspruch zu den Klassifizierungen von Menschen, wie sie etwa auf der Pariser Weltausstellung von 1889 vorgenommen wurden. Dieses koloniale Denken blieb auch nach 1900 wirkmächtig und zeigte sich unter anderem unter anderem im Umgang der europäischen Frauenbewegung mit außereuropäischen Mitstreiterinnen (hier am Beispiel von Damaskus veranschaulicht).[16] | Abs. 20

Ob die mit einem Ort verbundene Konstellation als Modell, als Exempel oder als singuläre Strategie für den Umgang mit Differenz anzusehen ist, hängt in erster Linie vom Vergleichsrahmen ab. An der Stadt Istanbul lässt sich zeigen, wie das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen im Osmanischen Reich geregelt wurde. Christliche und jüdische Untertanen galten als „Schutzbefohlene“ des Sultans und waren schlechter gestellt als Muslime, sie genossen jedoch erhebliche Autonomie. Diese auf islamischen Vorstellungen gründende Ordnung einer multireligiösen Gesellschaft wurde brüchig, als das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert durch ethnisch-religiös fundierte Nationalbewegungen unter Druck geriet. Juden hatten aber auch in anderen Gemeinwesen des östlichen Europa eine ähnlich autonome Rechtsstellung. In der Zeit des polnischen Sejm etwa war ein Fürsprecher („Shtadlan“), der die Interessen der Juden vertrat, gemeinhin akzeptiert.[17] | Abs. 21

Glaubensfragen? Differenzmarkierungen

Der Umgang mit Differenz in der europäischen Geschichte der Neuzeit war von vielfältigen Zugehörigkeiten geprägt, die sich häufig überlappten. Abhängig von der jeweiligen religiösen, geistigen, politischen und sozialen Konstellation trat die eine oder andere Kategorie stärker zutage; in der Gesamtschau über fünf Jahrhunderte gab es keine vorherrschende Leitdifferenz. | Abs. 22

Aufgrund der interdisziplinären Struktur des IEG, das sich in eine religionsgeschichtliche und eine allgemeingeschichtliche Abteilung gliedert, richten die „Ortstermine“ ein besonderes Augenmerk auf religiös-säkulare und interreligiöse Spannungsfelder. An den ausgewählten Orten und den mit ihnen verbundenen Aushandlungsprozessen zeigt sich der Stellenwert religiös geprägter Konzepte, Denkmuster und Praktiken in ihren gesellschaftlichen Kontexten. Umgekehrt lassen sich an ihnen die politischen und gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren ablesen, die auf inner- und interreligiöse Prozesse einwirkten. | Abs. 23

Die „Ortstermine“ behandeln diese Überlappungen von Zugehörigkeiten und Differenzkategorien (Intersektionalität) erstens mit einem expliziten Blick auf das Verhältnis von „Religion“ und „Politik“. Unter letzterer wird für die Frühe Neuzeit vor allem die Etablierung und Ausübung territorial begrenzter Herrschaft verstanden; für das 19. und 20. Jahrhundert wird „Politik“ auf umfassendere gesellschaftliche Aushandlungsprozesse bezogen. Zweitens nehmen die Artikel das Zusammenspiel religiös bestimmter mit gesellschaftlich, kulturell oder wirtschaftlich bestimmten Zugehörigkeiten sowie die daraus folgenden Differenzmarkierungen in den Blick. | Abs. 24

Mit Blick auf das Verhältnis von Religion und Politik zeigen zahlreiche Artikel, dass sich Fragen der religiösen Koexistenz selten scharf von anderen herrschaftlichen oder wirtschaftlichen Interessen und Machtressourcen trennen ließen. In der Frühen Neuzeit gelang es in der Regel nur dann, religiöse Konflikte einzuhegen, wenn diese Gemengelage offensiv angegangen wurde (wie im Kuttenberger Religionsfrieden), oder wenn Fragen, die theologisch zu klären waren, ausgespart blieben. | Abs. 25

Schon im 15. Jahrhundert waren, auf dem Konzil von Ferrara und Florenz, die byzantinischen Entscheidungsträger (Kaiser, Patriarch, Bischöfe) bereit, „um der politischen Verständigung willen Kompromisse in religiös-kirchlichen Fragen einzugehen“, damit die westlichen Mächte ihnen gegen die Osmanen militärisch beistanden.[18] Die Religionsfrieden des 16. und 17. Jahrhunderts gingen weiter. Sie regelten die Koexistenz konfessioneller Gruppierungen, indem sie die Wahrheitsfrage ausklammerten. So wurde 1599 in Wilna – nach dem Vorbild der Konföderation von Warschau (1573) – zwischen Protestanten und Orthodoxen eine politische, keine theologische Einigung getroffen. Noch im 18. Jahrhundert bezogen sich die Garantiemächte Preußen und Russland auf die Wilnaer Konföderation.[19] Ähnliche Tendenzen zeigen sich auch in Westeuropa. Mit dem Edikt von Nantes (1598), das „die konfessionelle Spaltung Frankreichs bekräftigte“, wurde das „Ideal der religiösen Einheit des Gemeinwesens […] zugunsten der Wiedererringung der politischen Einheit aufgegeben“.[20] | Abs. 26

Diese allgemeinen Beobachtungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Stellenwert religiöser Überzeugungen und/oder Argumente in politischen Kontexten im Verlauf der Neuzeit beständig wandelten. Modelle, die in der Frühen Neuzeit zur Überbrückung primär religiös bestimmter Differenzen entwickelt wurden, transformierten sich über die Französische Revolution hinaus bis ins 20. Jahrhundert. Die Artikel der „Ortstermine“ zeigen, dass diese Prozesse nicht ein- und geradlinig als stetig zunehmende Säkularisierung der europäischen Gesellschaften verliefen und dass die jeweiligen konfessionellen bzw. religiös-politischen Kontexte ihre Eigendynamiken besaßen. Im Ersten Weltkrieg beispielsweise forderte der Theologe Karl Barth vom neutralen Schweizer Ort Safenwil aus, Theologie und Politik konsequent zu trennen. Er wandte sich damit gegen deutsche Theologen wie Martin Rade, die den Krieg als religiöses Erweckungserlebnis deuteten.[21] Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich die polnischen Bischöfe, allen voran Bolesław Kominek aus Breslau, um eine Wiederannäherung zwischen Polen und Deutschland. Sie suchten ihre religiöse Motivation (christliche Nächstenliebe) in eine politische Sprache der „Versöhnung“ zu übersetzen.[22] | Abs. 27

Darüber hinaus spiegeln die „Ortstermine“ wider, wie sich das Zusammenspiel religiös bestimmter mit gesellschaftlich, kulturell oder wirtschaftlich bestimmten Zugehörigkeiten im Verlauf der europäischen Neuzeit wandelte. | Abs. 28

Das Beispiel der Londoner „Fremdengemeinde“ im 16. Jahrhundert weist nicht nur eine Gemengelage zwischen sozialen Schichtungen und konfessionell-theologischen Unterscheidungen aus. „London“ steht hier für das Phänomen der Konfessionsmigration, also die zeitweiligen oder dauerhaften Aus- und Einwanderungen größerer und kleinerer Gruppen, die aus primär religiös-konfessionell bestimmten Motiven erfolgten.[23] Das Beispiel Londons verweist zudem darauf, dass die religiöse Zugehörigkeit zu Beginn der Neuzeit nationale, sprachliche oder ethnische Zuschreibungen überwölben konnte. Jedoch konnten sich in den frühneuzeitlichen Konfessionsmigrationen Flucht aus religiös-konfessionellen Motiven durchaus mit Aufnahme aus wirtschaftlichen Gründen mischen. Dieser Zusammenhang führte – so zeigt das Beispiel Emdens – bereits im 16. und 17. Jahrhundert zum Phänomen von „Wohlstandsflüchtlingen“.[24] | Abs. 29

Letzterer ist nur einer der Fälle, in denen die „Ortstermine“ auf Überlappungen von Differenzkategorien hinweisen, die in der europäischen Geschichte über mehrere Jahrhunderte hinweg zu beobachten sind. Seit dem 19. Jahrhundert wurden „[s]oziale, religiöse und sprachliche Differenzen frühneuzeitlichen Ursprungs“ zunehmend „in nationale Begriffe gefasst“, wie das Beispiel Lembergs um 1900 verdeutlicht.[25] Doch auch in der Moderne avancierte die Differenzkategorie „Nation“ nicht unangefochten zum „Letztwert“. Wie nationale und religiöse Zugehörigkeiten wechselseitig in partikularistischer und in universalistischer Absicht in Anspruch genommen werden konnten, zeigt sich anschaulich in den Auseinandersetzungen um das Erbe des europäischen Kolonialismus. So erhob die religiös, ideologisch und sozio-kulturell vielgestaltige antikoloniale Nationalbewegung in Ägypten mit Kairo als ihrem Zentrum den Slogan „Die Religion gehört Gott, das Vaterland allen“ 1919 zu ihrer Maxime.[26] In der ägyptischen Handelsmetropole Alexandria mit ihren jahrhundertelangen Beziehungen zu „Europa“ hatte sich im 19. Jahrhundert eine Verbundenheit mit der Stadt selbst herausgebildet, in der ebenfalls kulturelle und rechtliche Zuordnungen zu „Ägypten“ oder „Europa“ nebeneinander existieren konnten, bis die Einführung der ägyptischen Staatsangehörigkeit Ende der 1920er-Jahre neue Eindeutigkeiten schuf.[27] Zwar begründeten die europäischen Kolonialherren ihre Zivilisierungsmission oftmals unter Verweis auf die fehlenden universellen Rechte der Frauen in anderen Kulturen; doch in den Kolonialgebieten verhinderte gerade ein männliches Bündnis aus kolonialen, religiösen und einheimischen Eliten die Gleichberechtigung der Frauen.[28] | Abs. 30

Blickt man auf innergesellschaftliche Differenzierungen und Homogenisierungen unterhalb der Großkategorien „Nation“ und „Religion“, so veranschaulichen mehrere Artikel, dass soziale Ordnung vielfach durch äußere Erscheinungsmerkmale hergestellt werden sollte. Diese konnten religiöse Zugehörigkeiten markieren und zugleich relativieren, wie sich etwa am Beispiel jüdischer Kleiderordnungen zeigt – hier in der Reichsstadt Frankfurt am Main um 1700.[29] Kleidung bleibt bis in die Gegenwart hinein ein Medium, um Differenzen zu markieren, die häufig – wie der Kopftuch-Streit in Paris verdeutlicht – mehrdeutig bleiben: Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird das Kopftuch „wahlweise als Zeichen der Unterdrückung von Frauen, als Symbol einer misslungenen Integration oder als Ausdruck einer spezifisch weiblichen Religiosität/Identität gesehen“[30], kann aber auch dazu benutzt werden, militärische Interventionen in islamischen Ländern zu legitimieren.[31] | Abs. 31

Ebenfalls in Paris war zu Beginn der Französischen Revolution das wegweisende Dokument entstanden, das alle Unterschiede zu nivellieren versprach. Die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ vom 26. August 1789 postulierte die Gleichheit aller Menschen. Dieser Anspruch auf Gleichheit wurde allerdings für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sehr unterschiedlich umgesetzt. Weiterhin wurde in europäischen Gesellschaften nach Religion, Hautfarbe und Geschlecht differenziert und diskriminiert – um nur einige zentrale Kategorien zu nennen.[32] So machte der massenhafte Sklavenhandel zwischen Afrika, Europa und dem amerikanischen Doppelkontinent eine Dimension von Ungleichheit sichtbar, die über Leibeigenschaft und Knechtschaft hinausging, welche seit dem Mittelalter innerhalb Europas existierten: Der – hier am Beispiel Nantes skizzierte – Sklavenhandel bedeutete die „Entmenschlichung eines Teils der Menschheit aufgrund von ethnischen Zuschreibungen“. Erst im 19. Jahrhundert stufenweise abgeschafft, bildete er eine Grundlage des modernen Rassismus.[33] Zugleich boten die ursprünglich vor allem christlich-theologisch begründeten Argumente gegen den Sklavenhandel ein metaphorisches Arsenal, um Ungleichheit und Unterdrückung in gesellschaftlichen und staatlich-politischen Kontexten anzuprangern. So wurde die Vereinbarung zur Befriedung Griechenlands (1827), die auf das „Massaker von Chios“ folgte, sowohl mit Motiven der Menschlichkeit, die ethisch, nicht ausdrücklich religiös begründet waren, als auch mit politischen Motiven gerechtfertigt.[34] | Abs. 32

Verhandlungssache? Typen des Umgangs mit Differenz

Ein letztes, zentrales Kriterium für die Auswahl der Orte und der mit ihnen verbundenen Problemkonstellationen war, dass sich darüber spezifische Formen des Umgangs mit Differenz im Europa der Neuzeit erschließen lassen. Diese Formen verdichten sich zu zehn (Ideal-) Typen, welche die Schwerpunkte des laufenden Forschungsprogramms des IEG widerspiegeln und auf der Web-Nutzeroberfläche mit je einem Schlagwort abgekürzt werden: | Abs. 33

♦ Ausgrenzung: Unterdrückung und Ausgrenzung
♦ Diskussion: sachliche Auseinandersetzung oder Polemik
♦ Frieden: Ausgleich, Kompromiss und Friedensschluss
♦ Hilfe: Unterstützung und Wohltätigkeit sowie humanitäre Interventionen
♦ Krieg: gewaltsame Auseinandersetzungen und Krieg
♦ Migration: zeitweilige und dauerhafte räumliche Mobilität (Grenzgang, Ein- und Auswanderung und Exil)
♦ Mission: religiös und nicht religiös motivierte Missionierung, Bekehrung und Zivilisierung
♦ Protest: Protest und Widerstand
♦ Selbstbehauptung: Selbstreflexion, Selbsthilfe und weitere Formen der Selbstbehauptung
♦ Vernichtung: Vernichtung und Auslöschung | Abs. 34

Die einzelnen Orte mit ihren vielschichtigen Problemkonstellationen wurden jeweils zwei dieser Typen zugeordnet. Im Einzelnen taten sich dabei vielfältige Interferenzen zwischen komplementären oder konkurrierenden Typen auf, welche die Dynamik und den Prozesscharakter des Umgangs mit Differenz verdeutlichen. Dies sei hier anhand von drei Typen exemplarisch veranschaulicht. | Abs. 35

Frieden (Ausgleich, Kompromiss und Friedensschluss)
Eine Reihe von Orten stehen für Friedensverträge, die zwischen Staaten bzw. ihren Herrschern verhandelt wurden – allen voran der 1648 in Münster und Osnabrück geschlossene Westfälische Friede. Er beendete den Dreißigjährigen Krieg, der für „Konfessionskonflikt und Staatenkonkurrenz“ im Europa der Vormoderne steht.[35] Die Predigten, die anlässlich des Kriegsendes unter anderem im thüringischen Ronneburg gehalten wurden, zeigen die Spannung zwischen Kriegsbewältigung und Friedensvermittlung auf, indem sie den Frieden gleichermaßen als Aufgabe der Verständigung zwischen Menschen und als göttlich gewolltes und bewirktes Ereignis verkündeten.[36] | Abs. 36

An einer anderen Reihe von Orten wurden innerterritoriale Regelungen für die Koexistenz der verschiedenen christlichen Konfessionen entweder zwischen mehreren Parteien (z.B. Fürsten und Ständen) ausgehandelt oder einseitig (durch die Fürsten) dekretiert. Diese frühneuzeitlichen Religionsfrieden gewährten Religionsfreiheit in vielen Stufen. So ermöglichten die Thorenburger Landtagsabschiede in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Siebenbürgen eine relative Freiheit der Religionsausübung, die zum einen auf Stände statt auf Individuen und zum anderen auf bestimmte, im Lauf der Zeit jeweils neu festgelegte Glaubensrichtungen beschränkt blieb.[37] Die Warschauer Konföderation von 1573 war deshalb wegweisend, weil sie eine politische Benachteiligung aufgrund konfessioneller Zugehörigkeit ausschloss. Allerdings verwies sie „nicht auf die unterschiedlichen Konfessionen, sondern lediglich auf die ‚im Glauben Verschiedenen‘, also auf Individuen, und zwar auf den polnisch-litauischen Adel selbst“ und bestätigte damit letztlich adlige Privilegien.[38] Frühneuzeitliche Duldung war eben keine Toleranz im modernen Sinn. Dies veranschaulicht auch das – hier schon mehrfach angeführte – Edikt von Nantes (1598). Damit wurde „den Protestanten die Gewissens- und eingeschränkte Kultfreiheit sowie der Schutz vor Verfolgung garantiert, sie wurden den Katholiken aber keineswegs gleichgestellt“.[39] | Abs. 37

Selbstbehauptung (Selbstreflexion / Selbsthilfe / Selbstbehauptung)
Diese Regelungen innerchristlicher Koexistenz verweisen auf die übergeordnete Frage, wie sich Individuen und Gruppen im Europa der Neuzeit gegenüber hegemonialen Ansprüchen zu behaupten suchten, wie sie also artikulationsfähig bleiben und Deutungs- und Handlungsmacht ausüben konnten. Dabei nahmen sie unterschiedliche immaterielle Ressourcen in Anspruch. | Abs. 38

Ressource religiöses Bekenntnis: In der Frühen Neuzeit treten Ansprüche auf Selbstbehauptung besonders anschaulich in Situationen religiös motivierter bzw. konditionierter Mobilität zutage. Wie das Beispiel Londons erhellt, konnten Migrantengemeinden in religiöser und sozialer Hinsicht kohärenter sein als die sie aufnehmende Gesellschaft. Das Zusammenspiel von Selbstbehauptung und Migration zeigt sich zum einen in der relativen Kohäsion der ersten und zweiten Generation von Immigranten, die tendenziell eine geschlossene Gemeinde bildeten, und zum anderen in der allmählichen Anpassung in den folgenden Jahrzehnten, als weiterer Zuzug bzw. Hin- und Rückwanderungswellen zu verzeichnen waren.[40] Religiös bestimmte Mobilität zeigt ferner die Interferenzen zwischen Duldung und Ausgrenzung in vielfältigen Schattierungen auf: Wer in der Frühen Neuzeit für die Möglichkeit eintrat, die eigenen Glaubensvorstellungen zu leben, befürwortete keineswegs automatisch allgemeine Religions- und Glaubensfreiheit. So sahen sich die von Plymouth (England) in die „neue Welt“ aufbrechenden Puritaner der „Mayflower“ als von Gott auserwählte religiöse Elite und verachteten diejenigen, die „andere Vorstellungen des christlichen Lebens verfolgten“.[41] | Abs. 39

Ressource Geschichte: Wie sich in den antikolonialen Bewegungen im Kairo des 20. Jahrhunderts, aber auch im griechischen Unabhängigkeitskampf gegen das Osmanische Reich zeigt, sollte der Verweis auf die „eigene“ antike Hochkultur Forderungen nach Unabhängigkeit unterstreichen. Die Verfügungsgewalt über die „eigene“ Geschichte war in Europa und darüber hinaus heftig umkämpft. Im 19. und 20. Jahrhundert sollte der Rückgriff auf die eigene lange Geschichte häufig gegenwärtige Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen legitimieren.[42] | Abs. 40

Ressource Kultur: Am Beispiel der kroatischen Hafenstadt Dubrovnik wird deutlich, wie sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts „Kulturelle Identität“ als Kampfbegriff etablierte, der für die „Identität“ bzw. die Rechte bestimmter Gruppen, aber auch gegen das Programm eines Multikulturalismus in Anspruch genommen wurde.[43] | Abs. 41

Mission (Missionierung / Bekehrung / Zivilisierung)
Missionierung, Bekehrung und Zivilisierung konnten einerseits explizit auf religiöse Konversionen zielten, andererseits „säkular“ begründete Erziehungs- und Akkulturationsbemühungen beinhalten. Sie gingen mit anderen Strategien der Differenzbewältigung – wie Ausgrenzung, Hilfe und wissenschaftlicher Auseinandersetzung – einher oder traten mit ihnen in Konflikt. | Abs. 42

Als im spanischen Valladolid um die Mitte des 16. Jahrhunderts diskutiert wurde, ob und wie die Bewohner des amerikanischen Doppelkontinents zum Christentum zu bekehren seien, traten der Dominikanermönch Bartolomé de las Casas und seine Anhänger für menschliche Gleichheit und Gewaltfreiheit ein. Damit erkannten sie jedoch die kulturelle und religiöse Vielfalt in Europa und der sogenannten Neuen Welt keineswegs an. Die Europäer seien vielmehr verpflichtet, solche Differenzen, „die als kulturelles Gefälle wahrgenommen wurden“, zivilisatorisch einzuebnen.[44] | Abs. 43

Noch im 19. Jahrhundert erkannten europäische Missionare eine Aufgabe darin, Antworten auf diese kulturelle und religiöse Vielfalt zu finden. Einerseits einte den christlichen Internationalismus aller Missionsgesellschaften ein grenzüberschreitendes, „universales“ Selbstverständnis. Andererseits verstanden sich etwa die Angehörigen der Basler Mission als „erweckte“ Christen („Evangelicals“) und damit als eine Minderheit in Europa, die nun die Chance sah, die Bewohner der „Kolonien“ umfassend zu einem „reinen“ und „wahren“ Christentum zu bekehren, das in Europa verloren gegangen sei. In ihren Missionsgebieten (v.a. in Indien) waren sie indes mit vielschichtigen Differenzerfahrungen konfrontiert, aufgrund derer sie ihre christlich-europäischen Wertvorstellungen anzupassen hatten.[45] | Abs. 44

Ganz anders gelagerte Varianten von „Bekehrung“ und „Missionierung“ spiegeln sich schließlich in der Entstehung der modernen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. In den Debatten um Charles Darwins Evolutionstheorie, die er nicht zuletzt an Flora und Fauna auf den Galápagos-Inseln entwickelt hatte, scheint die wissenschaftliche Auseinandersetzung als eine neue Form des Umgangs mit religiös-säkularen Differenzen auf. Nun wurde „eine von evolutionärer Wissenschaft unterstützte Weltanschauung […] öffentlichkeitswirksam in Kontrast zu religiösen Weltdeutungen gesetzt“.[46] Mit diesem Mechanismus wurde gleichzeitig die schon im 17. Jahrhundert einsetzende Sakralisierung von (Natur-) Wissenschaft fortgesetzt, deren Ergebnisse als unverfügbare und unveränderliche Instanzen etabliert wurden. | Abs. 45

Ausblick

In der Gesamtschau präsentieren die Artikel der „Ortstermine“ einige übergreifende Erkenntnisse aus der Arbeit in dem seit 2012 laufenden Forschungsprogramm des IEG zum Umgang mit Differenz im Europa der Neuzeit. | Abs. 46

Erstens wird deutlich, wie sich im Verlauf der europäischen Neuzeit sowohl die Bewertung von Vielfalt und Andersartigkeit wandelte als auch die Strategien, mit denen die vielfältigen Pluralisierungs- und Differenzierungsprozesse weitergeführt, befördert oder eingedämmt werden sollten. So zeigt sich am Beispiel der Religionsgespräche und Religionsfrieden des 16. und 17. Jahrhunderts, dass Versuche, religiös-politische Homogenität herzustellen, die faktische Vielfalt befestigen konnten. Zwischen widerstrebender Duldung und affirmativer Bejahung von Pluralität gab es auch über das Zeitalter der „Aufklärung“ hinaus eine breite Palette an Deutungs- und Handlungsoptionen. Im 20. Jahrhundert wurden Ansprüche auf nationale, ethnische und kulturelle Homogenität mit bislang unvorstellbarer Härte und Konsequenz durchgesetzt. Die verschiedenen Wellen der Dekolonisation etablierten in Europa ein Bewusstsein globaler Vielfalt, in dem sich globale Hierarchien („Dritte Welt“, „globaler Süden“) mit neuen Universalismen („Eine Welt“) mischten. | Abs. 47

Zweitens weisen zahlreiche „Ortstermine“ auf das Paradoxon hin, dass Versuche, partikulare Interessen und Divergenzen mit der Berufung auf universale Wert- und Zielvorstellungen zu überspannen oder zu beseitigen, systematisch neue Asymmetrien und Unterschiede generierten – etwa bei der Unterscheidung von Helfenden und Hilfsbedürftigen in der christlichen Mission oder der humanitären Hilfe[47]. Darin zeigt sich eine gesellschaftlich wirksame Dialektik der Sakralisierung und Desakralisierung handlungsleitender Vorstellungen. Sie lässt sich auch auf Feldern feststellen, die ursprünglich nicht religiös konnotiert sind – wenn z.B. die Galápagos-Inseln als eine Art neuer „heiliger Boden“ ausgerufen werden und damit eine wissenschaftliche Erkenntnis sakralisiert wird. | Abs. 48

Drittens stellen die „Ortstermine“ die Bedeutung vieldeutiger – räumlicher, sozialer und ideeller – Grenzen und Grenzüberschreitungen für den Umgang mit Differenz heraus. Es wird deutlich, dass Differenzerfahrungen in besonderem Maße durch Mobilität erfahrbar gemacht und reflektiert wurden. Insbesondere das, was als „europäisch“ konstruiert wurde, entstand erst in der Begegnung mit und in der Abgrenzung zu Kulturen, die als „nicht-europäisch“ wahrgenommen und bezeichnet wurden. Unterscheidungen zwischen „Europa“, seinen Randzonen und „nicht-europäischen“ Außenräumen, die gleichwohl lange Zeit von europäischen Großmächten beansprucht und zu Europa gerechnet wurden, erscheinen so als Ergebnis komplexer Prozesse, in denen vor Ort ausgehandelt wurde, welche Orte, Werte, Praktiken und Zugehörigkeiten als „europäische“ bzw. „nicht-europäische“ galten oder zu gelten hatten. | Abs. 49

Weiterführende Literatur

EGO | Europäische Geschichte Online = European History Online, hg. v. (Leibniz-) Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010ff. URL: http://www.ieg-ego.eu.

Gregor Feindt u.a. (Hg.), Kulturelle Souveränität: Politische Deutungs- und Handlungsmacht jenseits des Staates im 20. Jahrhundert, Göttingen 2017 (VIEG Beiheft 112).

Fabian Klose / Mirjam Thulin (Hg.), Humanity: A History of European Concepts in Practice From the Sixteenth Century to the Present, Göttingen 2016 (VIEG Beiheft 110).

Johannes Paulmann u.a. (Hg.), Unversöhnte Verschiedenheit. Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz in der europäischen Neuzeit, Göttingen 2016 (VIEG Beiheft 108).

Religion und Politik. Eine Quellenanthologie zu gesellschaftlichen Konjunkturen in der europäischen Neuzeit, hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz 2016. URL: http://wiki.ieg-mainz.de/konjunkturen.

Einzelnachweise

[1]   Vgl. zum Folgenden die Darstellung des laufenden Forschungsprogramms des IEG: http://www.ieg-mainz.de/forschungsprogramm.
[2]   Vgl. mit einem ähnlichen Ansatz für zwei spezifische Forschungsfelder den ebenfalls federführend am IEG erarbeiteten „Online Atlas on the History of Humanitarianism and Human Rights“, hg. v. Fabian Klose u.a., 2015. URN: urn:nbn:de:0159-2016090508.
[3]   Nach einer Sentenz Henri Pirennes, zitiert bei Fernand Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaft – Die „longue durée“ [frz. Orig. 1958], in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972, S. 189–215, S. 199.
[4]   Jan Martin Lies und Hans-Otto Schneider, Magdeburg.
[5]   Andrea Hofmann, Zürich.
[6]   Urszula Pękala, Trient / Trento.
[7]   Alexandra Schäfer, Kuttenberg / Kutná Hora.
[8]   Thomas Weller, Nantes, Abschnitt 1.
[9]   Kęstutis Daugirdas, Raków.
[10]   Cornelia Aust, Amsterdam.
[11]   John C. Wood, Oxford („the global diversity of Christian belief“).
[12]   Christopher Voigt-Goy, Augsburg.
[13]   Gregor Feindt, Warschau / Warszawa, Abschnitt 2.
[14]   Cornelia Aust, Lemberg / L’viv.
[15]   Thomas Weller, Nantes, Abschnitt 2; Fabian Klose, Chios / Χίος.
[16]   Katharina Stornig, Paris, Abschnitt 2; Manfred Sing, Damaskus / Dimaschq.
[17]   Denise Klein, Istanbul / İstanbul; Mirjam Thulin, Prag / Praha.
[18]   Mihai-D. Grigore, Ferrara und Florenz / Ferrara e Firenze.
[19]   Kęstutis Daugirdas und Cornelia Aust, Wilna / Vilnius, Abschnitt 1 (Kęstutis Daugirdas).
[20]   Thomas Weller, Nantes, Abschnitt 1.
[21]   Andrea Hofmann, Safenwil (Aargau).
[22]   Urszula Pękala, Breslau / Wrocław.
[23]   Judith Becker, London.
[24]   Henning P. Jürgens, Emden.
[25]   Cornelia Aust, Lemberg / L’viv, Abschnitt 2.
[26]   Manfred Sing, Kairo / al-Qāhira.
[27]   Esther Möller, Alexandria / al-Iskandariyya.
[28]   Manfred Sing, Damaskus / Dimaschq.
[29]   Cornelia Aust und Bernhard Gißibl, Frankfurt am Main, Abschnitt 1 (Cornelia Aust).
[30]   Katharina Stornig, Paris, Abschnitt 3.
[31]   Manfred Sing, Damaskus / Dimaschq.
[32]   Katharina Stornig, Paris, Abschnitt 1.
[33]   Thomas Weller, Nantes, Abschnitt 2.
[34]   Fabian Klose, Chios / Χίος.
[35]   Thomas Weller, Münster und Osnabrück.
[36]   Henning P. Jürgens, Ronneburg bei Gera.
[37]   Andreas Zecherle, Thorenburg / Turda.
[38]   Gregor Feindt, Warschau / Warszawa, Abschnitt 1.
[39]   Thomas Weller, Nantes, Abschnitt 2.
[40]   Judith Becker, London.
[41]   Christopher Voigt-Goy, Plymouth.
[42]   Manfred Sing, Kairo / al-Qāhira.
[43]   Andrea Rehling, Dubrovnik.
[44]   Thomas Weller, Valladolid.
[45]   Judith Becker, Basel.
[46]   Elke Ackermann, Galápagos-Inseln / Islas Galápagos.
[47]   Siehe auch Fabian Klose / Mirjam Thulin (Hg.), Humanity: A History of European Concepts in Practice From the Sixteenth Century to the Present, Göttingen 2016 (VIEG Beiheft 110).

Zitierempfehlung

Joachim Berger, An den Orten des Geschehens – zum Umgang mit Differenz im Europa der Neuzeit, in: Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa, hg. für das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) v. Joachim Berger, Irene Dingel und Johannes Paulmann, Mainz 2016. URL: http://www.ieg-differences.eu/ortstermine/einfuehrung.

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