Der Bergpfad zwischen Banyuls-sur-Mer und Portbou ist eng mit der Geschichte von Flucht und Fluchthilfe über die Pyrenäen verbunden. Über dieses Gebirge flüchteten im Winter 1938/39 zunächst spanische Soldaten und Zivilisten nach Frankreich. Nach der Besetzung Frankreichs durch das nationalsozialistische Deutschland (1940) gingen dann zahlreiche jüdische und andere Intellektuelle in die umgekehrte Richtung, um von Spanien aus über Lissabon nach Amerika zu gelangen. Zu den bekanntesten unter ihnen gehört der deutsch-jüdische Philosoph Walter Benjamin. Nach ihm ist heute dieser 15 Kilometer lange Weg benannt, der über die französisch-spanische Grenze führt.
Nach einem siebenjährigen Exilaufenthalt in Paris traf Benjamin Ende September 1940 in Banyuls ein. Mit Hilfe von Lisa Fittko, die selbst aus politischen Gründen aus NS-Deutschland emigriert war, gelangte er daraufhin zwar über die grüne Grenze nach Portbou. Doch dort beging der Herzkranke Selbstmord, auch da ihm die spanischen Behörden die Weiterreise verweigerten. So scheiterte Benjamins Versuch, nach Amerika zu fliehen.
Heute wird der Weg von Banyuls nach Portbou vorwiegend von Touristinnen und Touristen begangen. Von dem Bergpfad aus eröffnen sich Blicke auf das Mittelmeer, das Jahr für Jahr tausende Männer, Frauen und Kinder aus Afrika zu überqueren versuchen. In Italien angekommen, macht sich eine Vielzahl von ihnen nach wie vor zu Fuß auf den Weg über die Alpen, um von der Grenzpolizei unbehelligt nach Frankreich zu gelangen. Geographie und Landschaft eröffnen damit unterschiedliche Möglichkeiten, Schutz zu finden und sich zu verbergen – damals wie heute.
Die vergangenen und die aktuellen Fluchtwege gleichen sich zwar auf den ersten Blick und überlagern sich auch zuweilen. Doch die rechtlichen Bedingungen der Flucht unterscheiden sich doch erheblich. Rassistisch begründete und auf Religion bezogene Differenzen, wie sie im Laufe von Benjamins Flucht wirksam wurden, hingen mit den internationalen Rechtsverhältnissen zusammen. Die Fluchtbewegungen in und aus Europa waren während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine neue Form von Heimatlosigkeit gekennzeichnet. Diese war eng mit der internationalen Anerkennung des Nationalstaats als Garant von Rechten verbunden. Die Rechte von Menschen wurden damit ausschließlich durch ihren Herkunftsstaat abgesichert. So entstand eine dramatische Lage für politisch Verfolgte, weil sie kein Recht mehr auf Rechte hatten.
Auch die Bedeutung des Begriffs “Flüchtling” veränderte sich in dieser Zeit. Den internationalen Bemühungen, etwa 1921 ein Hochkommissariat für “russische Flüchtlinge in Europa” und 1933 für “Flüchtlinge aus Deutschland” einzurichten, lag ein Verständnis von “Flüchtlingen” zugrunde, das diese Fall für Fall betrachtete und einstufte. Erst die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gründete auf einer allgemeinen Rechtskategorie des “Flüchtlings”, die einer breiten Personengruppe Schutz vor politischer Verfolgung bieten sollte – zunächst ausschließlich in Europa. Ein Protokollzusatz zur Genfer Flüchtlingskonvention von 1967 erweiterte den rechtlichen Rahmen. Gleichwohl blieb die Frage, wer als “Flüchtling” anzuerkennen sei und wer nicht, weiterhin Gegenstand der Debatte. Bis heute sind weitere Ausschlüsse – etwa die sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge – umstritten.
Die genaue Betrachtung früherer Fluchtwege wie dem Benjamins kann Vorgänge, in denen Einzelpersonen den politisch motivierte Verfolgungen aufgrund von Kriterien wie “Rasse” und “Religion” entgegenwirkten, sichtbar machen. Nach der nationalsozialistischen Besetzung weiter Teile Europas ignorierten nur wenige die rassistisch begründeten Unterscheidungen zwischen Christen und Juden. Diese wenigen verhalfen trotz großer persönlicher Risiken Anderen zur Flucht – unabhängig von deren Religion und Herkunft. Lisa Fittko ist ein Beispiel dafür. Ihre Aufzeichnungen zeigen, dass sie rückblickend andere Differenzkriterien herausstellte. “Der alte Benjamin” überschrieb sie das Kapitel, in dem sie ihre gemeinsame Wanderung über die Pyrenäen schilderte. Das Adjektiv “alt” bezieht sich dabei nicht nur auf Benjamins “Herzkrankheit” oder sein biologisches Alter (48 Jahre), sondern ist sinnbildlich gemeint. Fittko präsentiert Benjamin wie aus einer “alten” Zeit kommend, die in intellektuellen Kreisen vor 1933 als “modern” galt und die durch die nationalsozialistischen Verfolgungen in Europa am Ende schien.
Trotz zahlreiche Denunziationen in den 1930er- und 1940er-Jahren stand Fittko mit ihrer Hilfeleistung nicht allein. Auch andere unterliefen die nationalsozialistische Ordnung und entzogen sich religiös begründeten Mustern des Ausschlusses. Die Frage, warum Benjamin trotz seines Selbstmords und seiner Zugehörigkeit zum Judentum auf dem katholischen Friedhof in Portbou begraben wurde, hat Anlass zu Spekulationen gegeben. Inzwischen ist geklärt, dass die Fotografin Henny Gurland, die Benjamin nach Portbou begleitete, eine Grabstätte auf dem geweihten Friedhofsteil kaufte und den Selbstmord verschleierte. Anders als Benjamin glückte ihr mit ihrem Sohn die Flucht. Kurz nach Benjamins Tod öffneten die spanischen Behörden die Grenzen. Dadurch konnten die Gurlands nach Lissabon und von dort aus per Schiff nach Nordamerika reisen.
Der Bergpfad zwischen Banyuls und Portou steht zunächst für mehrere Fluchtrouten in den 1930er- und 1940er-Jahren. Er ist seitdem aber auch zu einem Ort der Erinnerung an Flucht und Fluchthilfe geworden. Im Lauf der Jahrzehnte erhielt der Weg verschiedene Namen. Nachdem er zunächst “Ruta Líster” nach Enrique Líster, dem kommunistischen General der republikanischen Armee, hieß, wurde er zeitweise “F-Route” – F wie Fittko – genannt. Heute trägt der Pfad den Namen Benjamins und erinnert somit an einen gescheiterten Fluchtversuch aus einem Europa, das immer stärker nach Außen abgeschlossen war.
Die Bedeutung dieses Bergpfads reicht über das 20. Jahrhundert hinaus. In Portbou ist 1994 ein Gedenkort unter dem Titel “Passagen” entstanden – auf Initiative der Bundesrepublik und unterstützt durch das zivilgesellschaftliche Engagement in der Grenzregion. Die Skulptur des israelischen Künstlers Dani Karavan zeigt, dass sich Deutschland auch außerhalb seiner Grenzen um eine europäische Geschichtspolitik bemüht. Der Gedenkort kann dazu inspirieren, dem Wechselspiel von naturräumlichen Verhältnissen und menschlich hergestellten Verbindungen im Zuge von Flucht und Fluchthilfe nachzugehen – sei es mit Blick auf Banyuls und Gurs oder bekannte Orten wie Casablanca, Marseille und Lissabon. Verbunden mit der Lage am Mittelmeer lässt sich so zeigen, wie sich Flucht und Fluchthilfe historisch veränderten, und inwieweit der Schutz in den Bergen zeitunabhängig war.
Jérôme Elie, Histories of Refugee and Forced Migration Studies, in: Elena Fiddian-Qasmiyeh u.a. (Hg.), The Oxford Handbook of Refugee and Forced Migration Studies, Oxford 2014, S. 23–35.
Lisa Fittko, Mein Weg über die Pyrenäen, Erinnerungen 1940/41, München 1985.
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Anne Friedrichs, Beschilderung des “Chemin Walter Benjamin”, Foto, 2019. Lizenz: CC-BY 4.0.